Somästhetikvon Diana Weis23.4.2019

Mode, Drogen und Depression

[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 14, Frühling 2019, S. 25-36]

Unter dem Motto »Just say Moschino« präsentierte der Kreativchef des Labels Jeremy Scott im Frühjahr 2017 eine kleine Kollektion an Keypieces (»Capsule Collection«). Der Titel persifliert nicht nur den Slogan des US-amerikanischen »War on Drugs« der 1980er und frühen 1990er Jahre (»Just say no«). Scott interpretiert zudem das modische Genre der Kapselkollektion auf ironisch buchstäbliche Weise, indem er bunte Pillen zum Leitmotiv seiner Entwürfe macht. U.a. zeigt Scott eine skulpturale Handtasche, die eine Nachbildung jener zylindrischen, orangefarbenen Plastikdöschen darstellt, in denen Apotheken in den USA verschreibungspflichtige Medikamente ausgeben. Neben aufgedruckten Warnhinweisen, die enthaltenen Tabletten nicht in Kombination mit Alkohol zu konsumieren, ist die Tasche mit goldfarbenen, lederdurchflochtenen Kettenriemen versehen, ein wiederum ironisch gebrochenes Pastiche des ikonischen Handtaschenmodells 2.55 von Chanel.

Der kalkulierte Aufschrei ließ nicht lange auf sich warten. Der Sozialarbeiter Randy Anderson stellte eine Petition ins Netz, die zum Boykott von Moschino aufrief und binnen weniger Tage mehr als 1.500 Unterschriften sammelte. Die Luxusanbieter Nordstrom und Saks Fifth Avenue gaben dem öffentlichen Druck nach und nahmen die Teile aus dem Verkauf. Zwar wiesen Scotts Entwürfe keine Hinweise auf, welche Art von Medikamenten die stilisierten Pillenverpackungen enthalten sollten, aber für das Heer der Empörten stand schnell fest, dass es sich bei der Kollektion um eine zynische Glamourisierung der Einnahme von Opioiden handelte.

Nicht zufällig geschah dies auf dem Höhepunkt der medial ausgiebig in Szene gesetzten US-amerikanischen »Opioid Crisis«. Opioide sind starke Schmerzmittel, deren Wirkung mit der von Heroin vergleichbar ist; von der Pharmaindustrie werden sie unter Markennamen wie OxyContin, Vicodin, Percocet oder Fentanyl vertrieben. Die Zahl der jährlichen Todesopfer, die durch den Missbrauch opioider Schmerzmittel verursacht wurden, ist Studien zufolge in der Zeit zwischen 2000 und 2016 um über 500 Prozent gestiegen. Besonders hart betroffen seien davon die sog. Millennials, also die zwischen 1980 und 2000 geborene ›Generation Internet‹.

Einiges deutet jedoch darauf hin, dass Scotts modische Pillen-Referenzen auf einen bis dahin weniger bekannten Nischenhype angstlösender Mittel aus der Gruppe der Benzodiazepine zurückgingen. Besonders um das Medikament Xanax, das in den USA pro Jahr etwa 50 Millionen Mal zur Behandlung von Depressionen und Angstzuständen verschrieben wird, hatte sich bereits einige Jahre vor der Lancierung der skandalösen »Capsule Collection« von Moschino auf hauptsächlich von Millennials genutzten Social-Media-Plattformen wie Tumblr oder Instagram ein regelrechter Kult gebildet. Unter Hashtags wie #sadgirl, #broken oder #mymeds wurden Bilder der riegelförmigen, in vier Abschnitte gegliederten Tabletten gepostet, oft als Teil mädchenhafter Inszenierungen, etwa in herzförmigen Pillendöschen, in Verbindung mit Einhorn-Kuscheltieren oder Produkten der Marke Hello Kitty. Auf der E-Commerce-Website Etsy findet man unter dem Suchbegriff »Xanax« eine Vielzahl von liebevoll in Kleinstauflagen produzierten Accessoires, etwa Seifen und Ketten- oder Schlüsselanhänger in Pillenform.

Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass Jeremy Scott sich bei stilprägenden Elementen der Vaporwave-Ästhetik, einer schwer definierbaren, netzbasierten, nihilistisch-hedonistisch geprägten Jugendkultur, bedient hätte. Bereits seine auf dem eigenen Label erschienene Herbst/Winter-Kollektion 2012, eine eklektische Mischung aus Regenbogenfarben, grob gepixelten Smileys und Bart-Simpson-Prints, musste sich aus der Szene den Vorwurf gefallen lassen, die Social-Media-Accounts von Teenagern auszubeuten: Ihre Traurigkeit und Verzweiflung verwandle Scott auf regressive Weise in tröstende Popkultur-Versatzstücke aus der eigenen Kindheit.

Als Modestil tauchte der Pharmazie-Look erstmals 2015 in Japan unter der Bezeichnung ›Yami-Kawaii‹ auf. ›Kawaii‹ bedeutet ›niedlich‹ oder auch ›kindlich‹ und ist mit populären großäugigen Figuren wie Pokémon oder Sailor Moon fester Bestandteil der Manga-Kultur. Die japanische Leidenschaft für Niedlichkeit brachte bereits diverse jugendkulturelle Stile wie Lolita oder Decora hervor. Die Bezeichnung ›Yami‹ steht dagegen für ›krank‹ oder auch ›behandlungsbedürftig‹. Anhängerinnen des Stils (es sind in der Mehrzahl Mädchen) dekorieren ihre Gesichter mit Heftpflastern, tragen Ohrringe in Spritzenform und Kleidchen, auf die pastellfarbige Pillen gedruckt sind. Vielleicht überraschenderweise wurde dieser Microtrend von der westlichen Modepresse überwiegend als zwar verstörend, aber grundsätzlich positiv bewertet, weil er in Japan immer noch tabuisierte psychische Krankheiten und die seit Jahren steil ansteigende Suizidrate bei jungen Erwachsenen thematisieren würde.

Doch auch in den westlichen Nationen schlagen Experten für psychische Gesundheit Alarm: Es sei wiederum die Gruppe der Millennials, unter denen die Zahl der diagnostizierten depressiven Erkrankungen am schnellsten ansteige, seit 2013 um etwa 50 Prozent. Die Journalistin Emma Garland prägte 2017 in einem Artikel für das Magazin »Vice« den Begriff »Xanxiety«; für sie geht die Popularität des Medikaments Xanax auf spezifische Probleme der Millennials, wie deren zunehmende Vereinsamung durch die Verlagerung sozialer Kontakte ins Netz und ökologische sowie ökonomische Zukunftsängste, zurück: Xanax sei »a cheap and instant Band-Aid for a problem too vast to have a solution«.

Es passt zur immer wieder zugeschriebenen Genderfluidität dieser Generation, dass das wohl bekannteste #sadgirl ein junger Mann war, der den Schriftzug »Cry Baby« über der rechten Augenbraue auf Stirn und Schläfe tätowiert trug. Lil Peep war einer der Protagonisten einer neuen Jugendsubkultur um Soundcloud- oder Emo-Rap, einem Musikstil, der Hip-Hop-Elemente mit düster-emotionalen Lyrics verbindet und deshalb auch als »sad rap« bezeichnet wird. Das Video zu »Awful Things« (auf YouTube mehr als 130 Millionen Mal angeklickt) zeigt Lil Peep auf dem Rücksitz eines Autos auf dem Weg in die High School, wo er sich mit sadistischem Lehrpersonal sowie zombiefizierten Teengirls herumschlagen muss. Ein kurzer Schwenk in den Fußraum des Wagens offenbart dutzende ebenjener orangefarbenen Pillendosen, die Jeremy Scott zu seinem eingangs beschriebenen Handtaschenentwurf inspirierten. Im November 2017 verstarb Lil Peep zwei Wochen nach seinem 21. Geburtstag an einer Kombination der Medikamente Xanax und Fentanyl. Vier Monate vor seinem Tod war er noch zu Gast bei der Pariser Fashion Week; Fotos zeigen, wie er in einer mit goldenen Nieten besetzten Jacke des Labels Balmain neben Carine Roitfeld, der ehemaligen Chefredakteurin der französischen »Vogue«, in der Front Row sitzt. Lil Peeps älterer Bruder gab den Medien später eine Mitschuld an seinem Tod: Sein Bruder sei »dafür bezahlt worden, traurig zu sein«.

Natürlich ist weder die Faszination für Suchterkrankungen noch das Schwärmen für Personen mit psychischen Problemen ein neues Phänomen in der Mode oder der Popkultur allgemein. Es gibt zahllose Beispiele von Künstlern, deren früher Tod durch Suizid oder eine Überdosis von Drogen oder Medikamenten als tragische Konsequenz eines genialischen Talents romantisiert wurde. Die Mitglieder des »Club 27«, Michael Jackson oder der Designer Alexander McQueen seien hier nur als einige augenfällige Beispiele genannt. Einen wichtigen Aspekt der Anziehungskraft dieser Figuren bildet das, was Susan Sontag in ihrem Essay »Illness as a Metaphor« aus dem Jahr 1978 als »the nihilistic and sentimental idea of ›the interesting‹« bezeichnet hat: Die Vorstellung, dass Krankheit auf ein schillernd-komplexes Innenleben verweise – Sontag wählte den Begriff des »interiour décor of the body« –, während Gesundheit als banal und vulgär empfunden werde.

In der jüngeren Modegeschichte lassen sich einige ›Skandalkollektionen‹ finden, die mit subkulturellen Ästhetiken kokettieren, welche stark mit dem Konsum von Drogen assoziiert werden. Darunter Raf Simons’ Herbst/Winter-Kollektion 2018, die Kleidungsstücke im Farbton »Pillendosen-Orange« zeigt, die mit dem Schriftzug »Drugs« oder Bildern der Schauspielerin Natja Brunckhorst in ihrer ikonischen Rolle als Teenager-Junkie Christiane F. im Film »Wir Kinder vom Bahnhof Zoo« aus dem Jahr 1981 versehen sind. Ein historisches Beispiel bildet Marc Jacobs’ Frühjahr/Sommer-Kollektion 1993, die wegen ›drogenverherrlichender‹ Referenzen auf die Grunge-Subkultur dafür sorgte, dass Jacobs seinen Posten als Chefdesigner für das Label Perry Ellis verlor. Im Herbst 2018 legte Jacobs 26 Looks der Original-Kollektion unter dem Namen »Redux Grunge« neu auf.

Der Überbegriff ›Drogenmode‹ übersieht jedoch, dass sich die Wirkung psychotroper Substanzen und damit die prägenden Gefühlswelten der jeweiligen Jugendkulturen sehr unterschiedlich gestalten. »Somästhetik« lautet das vom US-amerikanischen Philosophen Richard Shusterman Ende der 1980er Jahre begründete Forschungsfeld für solche Differenzierungen. Der Ansatz begreift den menschlichen Körper und seine psychosozialen Zustände als Ort der Ausprägung ästhetischer Vorlieben – die subjektiven Erfahrungen des Leibes, als Vermittlerinstanz zwischen Denken und Fühlen, Kultur und Kreatur, bestimmten noch vor visuellen Klischees von Kunst und Design die Hinwendung zu unterschiedlichen Formen, Farben und Materialien.

Es gibt nur wenige belastbare Daten zum Einfluss psychischer Gesundheit auf die Mode. Eine klinische Studie aus dem Jahr 2012 kommt zu dem wenig überraschenden Ergebnis, dass Patientinnen und Patienten mit Depressionen locker sitzende Kleidung aus weichen anschmiegsamen Stoffen in gedeckten Farben bevorzugten. Nicht ganz zufällig liest sich das wie eine Beschreibung der »Yeezy Season 1«-Kollektion des zum Modedesigner aufgestiegenen Rappers Kanye West aus dem Oktober 2015. West, der sich im November 2016 wegen nicht weiter benannter »Stress-induzierter« Probleme in klinische Behandlung begab, zeigte ausschließlich übergroße schwarze, schlamm- und hautfarbige Kleidungsstücke in jener dicken, kuscheligen, innen aufgerauten Baumwoll-Sweat-Qualität, die auch zur Anfertigung von Jogginganzügen – dem Klischee-Kleidungsstück der Depressiven – verwendet wird. 

Auch die niederländische Trend-Forscherin Li Edelkoort stellt in ihrem Forecast für das Jahr 2019 einen Zusammenhang zwischen dem psychischen Befinden der Millennials und dem anhaltenden Trend zu Oversize-Mode her. Junge Konsumenten hätten heute »mehr Angst als je zuvor«, Designer würden deshalb Kleidung entwerfen, »die Menschen beschützt und in der man sich verstecken kann«. Der Wirtschaftswissenschaftler Ernst Mohr hingegen verknüpft in seinem 2014 erschienenen Buch »Ökonomie mit Geschmack. Die postmoderne Macht des Konsums« psychosoziale Zustände mit der somästhetischen Wirkung aufputschender und beruhigender Drogen, sog. ›Upper‹ und ›Downer‹, als determinierende Faktoren gegensätzlicher Lebens- und Konsumstile. Mohr beschreibt den Effekt von Stimulantien wie Amphetaminen oder Kokain als »Überinteressiertheit« und damit als einen Zustand, der perfekt zur »Leistungsethik« neoliberaler Gesellschaften passe. Die somästhetische Erfahrung von Sedativa wie Opioiden oder dem Angstlöser Xanax könne dagegen als »Uninteressiertheit« aufgefasst werden, einer tendenziell antikapitalistischen Haltung, welche das individualisierte Wohlbefinden dem Erlangen sozialen Prestiges vorziehe.

Diese Einschätzung wird von einer Handvoll Modeblogger und -bloggerinnen, die laut Selbstaussage von einer »bipolaren Störung« betroffen sind, bestätigt. Sie geben übereinstimmend an, dass ihre modischen Vorlieben sowie ihr Konsumverhalten sich während manischer und depressiver Episoden stark unterschieden. In manischen Phasen würden viele neue Kleidungsstücke gekauft, sie förderten die Vorliebe für enganliegende und den Körper in sexueller Weise zur Schau stellende Mode; Depressionen hingegen führten dazu, sich eher für eine Uniformierung übergroßer, den Körper verhüllender und möglichst bequemer Kleidung zu entscheiden.

Der u.a. von der Autorin Katie Conibear im Oktober 2017 in der »Huffington Post« aufgeworfenen Frage, ob das medienträchtige Hausieren mit Diagnosen wie ›Bipolar Disorder‹ an sich bereits ein »modisches« Phänomen darstelle oder ob psychische Krankheiten wie Depressionen oder Angstzustände letztendlich nachvollziehbare Reaktionen auf konkrete zeitgenössische Probleme bildeten, wie es etwa der US-amerikanische Soziologe und Psychiater Allan V. Horwitz in seinem 2002 erschienenen Buch »Creating Mental Illness« annimmt, kann an dieser Stelle nicht in der erforderlichen Tiefe diskutiert werden. Mit Blick auf die gegenwärtige Modelandschaft lassen sich jedoch einige Phänomene ausmachen, die perfekt zur somästhetischen Sphäre der depressiven »Uninteressiertheit« zu passen scheinen. Dazu zählt der bereits seit einigen Jahren anhaltende und sich stetig verschärfende Trend zu voluminöser, den Körper verhüllender und möglichst bequemer Kleidung. Unter Schlagworten wie ›Streetstyle‹ oder ›Athleisure‹ konnte sich ein globaler Modestil durchsetzen, der zudem einen demonstrativ informellen Charakter aufweist. Damit wird zugleich auf den für die jüngeren Generationen typischen und auch auf den Sozialen Netzwerken beobachtbaren Wegfall zwischen Privatheit und Öffentlichkeit verwiesen. 

In der Retrospektive fällt auf, dass der in den 1990er Jahren aufgekommene Begriff des ›Heroin Chic‹ eigentlich auf einem Missverständnis beruhte. Tatsächlich war diese Dekade mit dem Triumph des Konsumkapitalismus und dem Aufkommen der Techno-Kultur eher von stimulierenden Drogen geprägt. Selbst als das Postergirl des ›Heroin-Chic‹, das britische Model Kate Moss, schließlich durch Paparazzi-Fotos des Drogenkonsums überführt werden konnte, handelte es sich bei der von ihr favorisierten Substanz um Kokain. Die von Moss zu dieser Zeit popularisierte Uniform aus hautengen Skinny-Jeans, Stiefeletten mit hohen Absätzen und schmal geschnittenen Blazern mit kantiger Schulterpartie bildete gewissermaßen den somästhetischen Gegenpol zur aktuell vorherrschenden Oversize-, Athleisure- und Sneaker-Mode.

Das Ende der ›depressiven‹ Silhouetten ist augenblicklich noch nicht absehbar. Möglicherweise liegt der Ausweg jedoch in den Mechanismen der Mode selbst, die sich trotz der von einigen Seiten geäußerten gegensätzlichen Einschätzungen auch im Jahr 2019 noch als überaus lebendig erweisen. Dazu zählt, dass auf jeden Trend ein Gegentrend folgt und nichts die demonstrative Abkehr von vormals als subversiv oder provokant empfundenen Stilmitteln so schnell vorantreibt wie deren Thematisierung in den Mainstream-Medien.

So kündigt sich bereits eine Übersättigung des Xanax-Trends auf der Plattform Instagram an. Eine Lil Peep-Epigone, die ironischerweise den Künstlernamen Lil Xan trägt, gründete vor einigen Monaten unter dem Hashtag #nomorexans eine Anti-Xanax-Bewegung, die jungen Fans dabei helfen möchte, auf die Einnahme der Tabletten zu verzichten. Letztlich trägt diese neuerliche Wendung dazu bei, die modische »Uninteressiertheit«, als deren popkulturelles Symbol die Xanax-Pille gelesen werden kann, selbst als Pose zu entlarven. Oder anders gesagt: Wer noch ausreichend Interesse aufbringt, um im Internet etwa einen goldenen Kettenanhänger mit der Aufschrift »Depression« des kalifornischen Labels Ban.Do zu erwerben, den oder die dürfte die teuflische Krankheit noch nicht allzu fest in ihren Klauen haben.

 

Dr. Diana Weis (1974) unterrichtet Modesoziologie und Ästhetik an der Universität Hamburg sowie Modetheorie an der AMD Berlin. Als freie Autorin schreibt sie für zahlreiche Magazine Stilkritiken und hat 2012 das Buch „Cool aussehen. Mode & Jugendkulturen“ herausgegeben. 2017 promovierte sie an der Universität Hamburg mit einer kulturwissenschaftlichen Arbeit über Botox.