Social Media Maivon Maria L. Felixmüller31.5.2019

Zum Nachleben der Kunstgeschichte in Internetmemen

„Wie entstehen die sprachlichen oder bildförmigen Ausdrücke, nach welchem Gefühl oder Gesichtspunkt, bewusst oder unbewusst, werden sie im Archiv des Gedächtnisses aufbewahrt und gibt es Gesetzte, nach denen sie sich niederschlagen und wieder heraus dringen?“[1]

Dies war eine der Hauptfragen, mit der sich der Kunst- und Kulturwissenschaftler Aby M. Warburg zum Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhundert beschäftigte. Um diese Frage zu beantworten, ist der Kunsthistoriker Warburg weit in die Felder der Evolutionsbiologie, Psychoanalyse und Kulturgeschichte vorgedrungen. Diese Frage ist für mich auch zur Leitfrage in der Auseinandersetzung mit Internetmemen geworden, und deshalb werde ich im Folgenden Meme auf Warburgs Theorie hin untersuchen: Sind Bilder tatsächlich ein künstlerischer Ausdruck, in dem sich affekthafte Emotionen manifestieren? 

Warburgs Pathosformel

Warburg setzte sich intensiv mit der Verbreitung symbolhafter Ausdrücke auf der Wanderstraße der Bilder auseinander. Historische Kunstwerke, die als Bilderfahrzeuge dienten, wie z. B. Wandtepppiche, aber auch Briefmarken, Poster und fotografische Schnappschüsse stellten für ihn ertragreiche Ausdrücke von Bildern dar, um eine Antwort auf die Frage zu bekommen, wie kulturelle Inhalte weitergereicht und verbreitet wurden. 

Als Kunsttheoretiker ging für Warburg alles vom Bild aus und musste auch auf das Bild zurückgeführt werden können. In den spontanen und dennoch bewussten menschlichen Ausdrücken der Kunst sah er differenzierte Ebenen menschlicher Entwicklung und betrachtete sie dementsprechend als anthropologische Artefakte. Vor allem die im 19. Jahrhundert viel diskutierte Idee eines vererbbaren kollektiven Gedächtnisses war für seine Überlegungen zentral. Die wiederholte Auseinandersetzung mit Hirn- und Gedächtnisforschung, mit zeitgenössischen Physiologen, Psychologen und Biologen im Kontext kultureller Psychologie haben es Warburg ermöglicht, die Idee sich einschreibender Erinnerung in die Kultur- und Kunsttheorie zu übertragen. Er entwickelte die These, dass die erneute Aktivierung von den im Unterbewusstsein gespeicherten Erinnerungsmustern in einem künstlerischen Ausdruck manifest werden. [2]

Zentral ist dafür Warburgs Begriff der Pathosformel. In universalgültigen Blaupausen formaler Gestik und gefühlsbetonter Mimik, die Warburg auch „das Volkslatein der pathetischen Gebärdensprache“[3] nannte, erkannte er eine Allgemeingültigkeit, die sich durch die Jahrhunderte von der Antike zur Renaissance wiederholte. Hinter jedem Ausdruck des Pathos liegen affekthafte psychische Energien. Sein Fokus lag dabei hauptsächlich auf Gestik und Mimik der Ekstase oder des Leidens. 

Die Verknüpfung der beiden Warburgschen Hauptgedanken – die sich scheinbar von selbst verbreitenden Bilderfahrzeuge und die Wiederholung von pathosgeladenen Bildinhalten als affekthafter Ausdruck eines kollektiven Gedächtnisses – funktioniert als geeignete Linse, um die zeitgenössische Kultur der Internetmeme zu betrachten. Internetmeme werden online digital verbreitet, und die Wiederholung ist Grundlage ihrer Existenz.

Internetmeme: Definition nach Shifman

Eine erste Analyse der Internetmeme wurde von der Kulturwissenschaftlerin Limor Shifman 2013 veröffentlicht. Sie hat gezeigt, dass es sich bei Internetmemen um eine Erscheinung handelt, die als Prisma für das Verständnis bestimmter Aspekte der zeitgenössischen Kultur begriffen werden können. Ein Verständnis kultureller Einheiten, in dem sich die Thesen Aby Warburgs widerspiegeln.

Shifman unterscheidet in traditionelle Meme und Internetmeme. Das traditionelle Mem wird von ihr klar auf die Ideen von Ewald Hering und Richard Semon zurückgeführt – mit denen sich auch Warburg beschäftigt hatte. Daraufhin bezieht sie die Thesen von Richard Dawkins und Susan Blackmore aus den 1970er und 1980er Jahren mit ein. Das traditionelle Mem steht deutlich im Kontext der Evolutionsbiologie. Hingegen ist das Internetmem von Shifman als eine kulturelle Einheit definiert, die biologisch unabhängig ist. Internetmeme sind nicht nur auf Bilder beschränkt. Videos, Texte, Musikstücke und Mischformen fallen ebenfalls unter diesen Begriff.

Ein wesentlicher Unterschied zwischen dem traditionellen Mem und Internetmem liegt im Erfolgsgedanken. Das erfolgreiche evolutionstheoretische Mem ist, entsprechend den Genen, durch seine Langlebigkeit definiert. Das Internetmem ist hingegen meistens eine Modeerscheinung von relativ kurzer Dauer und in der Populärkultur verortet. Shifman definiert ein Internetmem wie folgt:

Internetmeme sind eine Gruppe digitaler Einheiten, die bestimmte Eigenschaften des Inhalts, der Form und Haltung teilen, die memetischen Dimensionen. Die Meme sind in Kenntnis der schon existierenden entstanden und werden von Benutzern und Beteiligten online veröffentlicht und verteilt.[4] Der Mensch ist also kein von Memen gelenktes Vehikel oder von viralen Memen besetzter Wirt, wie noch von Dawkins und Blackmore angedacht, sondern bewusst partizipierend Handelnder und aktiver Verteiler.  [5]

 Ullrichs Inversive Pathosformel

Wolfgang Ullrich ist nach meinem Kenntnisstand der einzige, der bisher die Pathosfomel in Verbindung zu Internetmemen gesetzt hat. In seinem Artikel Inverse PathosformelnÜber Internetmeme untersucht der Kunsthistoriker die Möglichkeit, ob sich die Pathosformeln in Internetmemen wiederfinden lassen. Seiner Meinung nach werden in Internetmemen einschlägige Kunstwerke und Bilder verarbeitet, um ihre einschüchternde Wirkung auf ein spezielles Publikum umzuwandeln. Dabei sieht er das Internetmem als eine parodistische Negation eines ernsten Ereignisses oder ernstzunehmenden Bildes. 

Als psychologisches Instrument fungiert das Erstellen, Teilen und Liken eines Memes, um den aufgeregten Individualgeist zu beruhigen. Ullrich erkennt an, dass der Grund eines Internetmemes in der Distanzierung liegt. Seinem Gedankengang folgend, dienen Internetmeme jedoch dazu, den erschreckenden und/oder einschüchternden Effekt eines Motivs zu unterwandern. Der Umgang mit Internetmemen ist ein We,g sich von etwas zu erleichtern, das tief im kollektiven Gedächtnis gespeichert ist. Nicht – wie es bei der Pathosformel der Fall ist – es zu festigen, zu stärken oder zu verdichten. In letzter Konsequenz schlägt er vor, dass das Internetmem doch besser als Internet-Amnem in Anlehnung an die Amnesie bezeichnet werden sollte.[6]

Supplementum

Ich werde die von Ullrich aufgeworfene Frage weiterdenken. Wichtig ist es, zwischen den Pathosformeln an sich und dem Wiederholungsaspekt innerhalb des Konzepts der Pathosformeln zu unterscheiden. Beides hängt eng miteinander zusammen, und wie Warburg bereits gezeigt hatte, konnte durchaus eine Umcodierung der auslösenden Affekte in der Manifestation stattfinden. Ich sehe vor allem in der affekthaften Reaktion, Internetmeme zu verwenden, in der Wiederholung durch Copy’n‘Paste, Teilen, Verschicken, Rebloggen und Retweeten eine Effektivität ähnlich der Pathosformeln, deren Langzeitwirkung im kollektiven Gedächtnis man noch nicht einschätzen kann.

Wenn man nach Pathosformeln in Internetmemen sucht, dann wird einem Konzept nachgespürt, das ursprünglich im Kontext detailreicher, hochanerkannter Werke der Kunstgeschichte entwickelt wurde und nun auf oft niederschwellige, flache, abfällige und/oder politisch unkorrekte Bild-Wort-Witze und Parodien übertragen wird. 

Ullrich deutet die Umkehrung der Formeln und Motive in Internetmemen als Wunsch der Negierung der emotionalen Bedeutung des Ausgangspunktes, sprich des Motivs. Das sehe ich nicht so, vielmehr lässt sich der Kern der Pathosformel – Emotionen die derartig stark wirken, dass sie in Wiederholungen manifestiert werden – deutlich in Internetmemen nachweisen. Er nennt als Beispiel das Mem The Situation Room, auf das auch hier vertiefend eingegangen werden soll. 

In diesem Fall ist das Ursprungsbild des Internetmems eine ernste Situation, die einen Punkt hinter die traumatische Erfahrung eines Landes setzten sollte und entsprechend hohe politische Relevanz besitzt. Alles in allem eine in ihrer historischen Tragweite nahezu ungreifbare Situation. 

The Situation Room: Bildanalyse

Einige erinnern sich höchstwahrscheinlich: Anlass des Bildes war die Kill-or-Capture-Operation bei der Osama Bin Laden am 1. Mai 2011 erschossen wurde. Was sehen wir? Mitglieder des US National Security Councils sitzen gemeinsam mit dem damaligen Präsidenten und anderen wichtigen Regierungsangehörigen eng zusammengedrängt in einem kleinen Raum. Sie schauen ernst und besorgt links aus dem Bild, wo man einen Bildschirm vermuten kann. Als Betrachter der Fotografie sieht man nicht, was der Anlass der Bestürzung und Sorgen der US-Regierungsvertreter ist.

In der Mitte sitzt ein General, der als einziger nicht gebannt dem Geschehen links außerhalb des Bildes folgt, sondern sich in Aktion befindet: Er schaut auf seinen Laptop, tippt und es drängt sich die Frage auf, ob er als Angehöriger des Militärs in direktem Kontakt mit den Soldaten ist, die die Operation durchführen. Links von ihm sitzt – ganz alltäglich gekleidet – der damalige Präsident Barack Obama und zwei Plätze rechts vom militärischen Zentrum die Secretary of State Hillary Clinton, die sich verstört die Hand vor den Mund hält. 

Man kann im Situation Room drei verschiedene Reaktionsformeln ausmachen. Erstens: ernste oder gebannte Mimik, die von etwas eingenommen wird, das links außerhalb des Bildes liegt; zweitens: der konzentrierte Fokus auf etwas innerhalb des Bildes; und drittens eine verstörte Mimik, die von einer affekthaften Geste ergänzt wird. Der Situation Room zeigt die Handlungsunfähigkeit und lähmende Ernsthaftigkeit gegenüber einer verstörenden Situation. Alle Personen sind in einer der drei stimmungsvollen Posen festgehalten. Pathos vom griechischen Leiden meint das Ergriffen sein von bestimmten Ideen und Stimmungen. Pathos steckt auch in dieser Fotografie.

Die Greifbarkeit des Unfassbaren

In Bildern lagen für Warburg die Manifestationen der in Pathosformeln gespeicherten Affekte wie Angst, Leidenschaftlichkeit und Ekstase. Ihr Ursprung liegt im latent kollektiven Unbewussten und kann im kulturellen Bewusstsein durch Bildwerdung manifestiert und greifbar gemacht werden. Die Greifbarkeit entsteht durch den Künstler, der sich zwischen dem „hantierenden Greifmenschen“ und dem „Denkmenschen“, der sich auf rationaler Distanz zum Gegenstand befindet.[7] Dem Künstler ist es möglich die starken Emotionen in einen künstlerischen Ausdruck zu transformieren. Mittels Pinsel, Stift oder sonstigem Gerät hält er die affekthafte Sensation auf notwendigem Abstand. In der Transformation distanziert er sich von der emotionalen Wirkkraft, und es ist möglich die Emotionen in Bildern zu bannen. Kunstwerke sind daher in Warburgs Thesen ein bildhafter Ersatz und Abwehr schaffendes Objekt zur Verteidigung der rationalen Vernunft.[8]

Eigentlich ist der General beim Originalbild des Situation Rooms gar nicht der einzige, der nicht auf die Ereignisse links außerhalb des Bildes schaut. Im Gegensatz zur Starre, die die anderen Personen befallen hat, war der Fotograf, Pete Souza in Aktion, um – im besten Sinne Warburgs – als „hantierender Greifmensch“ mit seiner Kamera diesen unfassbaren Moment festzuhalten.[9] Zwischen ihm und der eigentlichen Situation ergab sich dadurch eine Distanz, die es ihm ermöglichte das entsprechend eindrückliche Bild zu fotografieren.

One does not become just a Meme

Das Originalbild ist Bestandteil des Internetmems. Auch dem Original liegen Form, Inhalt und Haltung als memetische Dimensionen zugrunde. Es drängt sich daher auch die Frage auf, welche Haltung das Weiße Haus einnehmen wollte bzw. welchen Zweck mit der Veröffentlichung erzielt werden sollte. Statt gar kein Bild zu bringen oder eine, wie die US-Regierungsvertreter die Exekution des Staatsfeinds Nr. 1 feierten, wird ein Bild veröffentlicht, das einen Raum voller ernst dreinblickender Personen zeigt. 

Das Bild wurde einen Tag nach der Operation, allein mit dem folgenden Kommentar auf den Flickr-Account des Weißen Hauses, hochgeladen:  “The Photograph may not be manipulated in any way and may not be used in commercial or political materials, advertisements, emails, products, promotions that in any way suggests approval or endorsement of the President, the First Family, or the White House.” [10]

Es wurde in kürzester Zeit eines der meist angesehenen Bilder auf dem Account und nur wenige Stunden später tauchte auf reddit das erste Mem dazu auf. Viele weitere folgten. Es lässt sich nur spekulieren, was von der Regierung mit der Veröffentlichung dieses speziellen Bildes kommuniziert werden sollte. Dass es aber ein Bild mit hohem emotionalen Effekt gewesen ist, zeigen nicht nur die Zahlen, wie oft das Bild aufgerufen wurde, sondern vor allem auch, dass es ein Internetmem geworden ist.

Die Partizipationslücke

Einen ersten Anhaltspunkt, warum das Bild zu einem Mem wurde, findet man bei Henry Jenkins. Er hat gemeinsam mit Kollegen demonstriert, dass es zwischen der digitalen Partizipationskultur und gewissen gesellschaftlichen Bereichen, die sich einem direkten Einfluss entziehen, wie zum Beispiel der Politik, eine Lücke gibt.[11] Internetmeme zu produzieren, zu teilen und verteilen, bietet die Möglichkeit, dem Unwohlsein gegenüber dieser Lücke Ausdruck zu verleihen. Internetmeme sind demnach ein Versuch die Lücke zumindest gefühlt zu überbrücken. 

Gleichzeitig entlarven sie die Lücke zwischen Gesellschaft und Politik. Eine Lücke, die im Fall des Situation Rooms unter anderem darauf zurückzuführen ist, dass zwar bei der Veröffentlichung darauf geachtet wurde, klar zu stellen, dass jede weitere Verwendung des Bildes ohne Genehmigung des Weißen Hauses rechtswidrig ist, aber versäumt wurde, mitzuteilen, warum die Gruppe der US-Regierungsvertreter derartig besorgt und erschrocken ist. Es wurde vorausgesetzt, dass die Betrachter ohnehin wissen, was dargestellt ist. Es wurde erwartet, dass sie im Bilde sind.

Den Protagonisten des Originalbildes ist nicht anzusehen, was sich links im Bild befindet, und diese Wissenslücke, das Unbekannte und das Unsichtbare, löst bei den Betrachtern zusätzliches Unwohlsein aus. Diesem lauten Nichtwissen, mit dem die Betrachter konfrontiert sind, gibt das Situation Room Flowergirl besonders aufschlussreich Ausdruck. In der Mitte am Tisch schaut uns grimmig ein kleines Mädchen mit Blumenkranz im Haar entgegen und hält sich die Ohren zu. Das Frowning Flowergirl oder auch RoyalWeddingGirl ist ein eigenständiges Internetmeme. 

Ausgelöst wurde es, als Prinz William und Kate Middleton nach ihrer Hochzeit zum ersten Mal auf den Balkon traten, um vor dem Volk den Royal Kiss zu vollziehen. Das dreijährige Blumenmädchen hält sich unglücklich drein schauend wegen der lauten Jubelschreie in kindlicher Direktheit die Ohren zu. Nachdem vorerst nur der Hashtag #RoyalWeddingGirl auf Twitter kursierte, wurde das Mädchen noch am selben Tag einem Bild von einer Trump-Rede hinzugefügt.

Innerhalb kürzester Zeit entwickelte sich die Implementierung des Frowning Flowergirls als Symbol, um Situationen, die Angst, Unwohlsein und Leiden verursachen, zu kommentieren. Ob sie im Situation Room mit an den Tisch gesetzt wurde und sich die Ohren wegen den Schüssen zuhält; ob sie so unglücklich guckt, weil sie die Situation an sich nicht aushält, kann nicht geklärt werden. Dass sie aber als symbolhafte Geste in das Ensemble hinzugefügt wird, lässt auf das emotionale Unwohlsein das das Originalbild auslöst, schließen. 

Die Lücke im Situation-Room

Wenn man sagen kann, dass die Internetmeme Ausdruck einer partizipatorischen Lücke sind, dann greifen sie im Situation Room Meme unbewusst etwas auf, was im Bild bereits enthalten ist. Sitzen und stehen die US-Regierungsvertreter nicht ebenso unbeteiligt der Bin Laden-Aktion gegenüber? Sie sind ebenfalls mit einer Beteiligungslücke konfrontiert. Die Times beschrieb sehr einleuchtend, “the President and his senior aids could do nothing but watch the video screen and listen to the operation and ensuing firefight on the other side of the world.” Etwas weiter dann “In the modern age, Presidents can experience their own military actions like a video game, except that they have no control over the events.”[12]

Ähnlich wie es in dem Times-Artikel in Worte gefasst wurde, ist der Gedanke, dass der Präsident bei militärischen Aktionen wie in einem Videospiel zusieht, aber nicht eingreifen kann, derartig erschreckend, dass er in einem Mem schlussendlich eine Umcodierung in das Gegenteil erfährt: Dem Präsidenten wird die Möglichkeit zu reagieren in Form eines Playstation-Controllers in die Hände gelegt. 

Die Geste der Sprachlosigkeit

Pathosformeln sind Posen und Gesten, deren Wirkung so stark sind, dass sie in Variationen immer wieder neu verarbeitet werden und dadurch als formende Kraft kulturelle Evolution an- und vorantreiben. In seinen letzten Lebensjahren hat Warburg in der Zusammenarbeit mit Ernst Cassirer den Gestus als symbolische Form erkannt. Die Bedeutungsimmanenz der pathetischen Gebärde fällt nach Warburgs Auffassung in der bildlichen Darstellung und der Wahrnehmung derselben zusammen. Internetmeme als gleichwertige symbolische Gesten zu verstehen und als ebensolche Kommunikationseinheiten fügt Bildern eine kommunikative Vielschichtigkeit hinzu. 

Die Geste im originalen Situation Room ist keine von Warburg verfolgte klassische Formel. Er hatte sich auf ausdrucksstarke Bewegungsdarstellungen der Ekstase und des Leidens im Nachleben der Antike in der Renaissance konzentriert. Die von Hillary Clinton vor den Mund gehaltene Hand ist dennoch ausdrucksstark. Sie suggeriert gebannte Sprachlosigkeit. Ein Schreck, der in der Sprachlosigkeit verharren lässt. Dies steht zwar ganz im Gegensatz zu Warburgs bewegten Formeln, ist aber nicht weniger emotional eindrücklich. Der absolute Stillstand als das Gegenteil zur Bewegung. 

Clintons Geste hat es einer Vielzahl an reddit-Usern angetan. 889 Zustimmungspunkte bekam der Kommentar: „I can’t stop looking at Hillary. She always seems so phony in public appearances, but this shows real emotion.“[13] Auch diese Reaktion wurde in einem Mem manifestiert. Ihr Gesicht wird zur einzig gültigen Mimik innerhalb des Situation Rooms. Auf gleiche Art wie in dem All-Obama-Mem wurden alle Regierungsvertreter durch Clintons Gesicht und Geste ersetzt. Ein Raum voll gebannter Spachlosigkeit.

Wie bei Warburg beschrieben, lösen die im Bild manifestierten Emotionen beim Betrachter affekthaft Emotionen aus und führen in Folge zu Wiederholungen affekthafter Reaktionen. Eine Aufforderung zum Nichtstun, wie sie vom Weißen Haus ausgesprochen wurde, führt mitunter eher zum Gegenteil und lädt die Betrachter ein, die Lücken zu füllen. Da Meme meist anonym generiert und verbreitet werden, ist es kaum möglich den Autor zu identifizieren.[14]

Ullrich bezeichnet Meme als Parodien. Parodien, die etwas Vorhandenes ins Komische ziehen, indem sie Form und Ton des Vorbildes beibehalten, diesem aber einen nicht mehr entsprechenden Inhalt unterschieben. Das trifft auch in den meisten Fällen zu. Während seiner Meinung nach die Ernsthaftigkeit einer Situation durch die Parodien untergraben wird, möchte ich vorschlagen, das Blickfeld zu erweitern. 

Ich hoffe, an den bereits gezeigten Beispielen nachgewiesen zu haben, dass ein Mem nicht zwingend einen nicht mehr entsprechenden Inhalt transportiert, sondern häufig auch nur eine emotionale Ergänzung sein kann. Es ist nicht außer Acht zu lassen, dass häufig bei Internetmemen eine destruktive und manchmal auch aggressive Intention mitschwingt. Doch die Sichtbarwerdung abwehrender Charakteristika dieser spielerischen Ausdrücke zu ignorieren und als simple Aggressionen abzutun denkt die kulturelle Relevanz der Internetmeme zu kurz. Wo man das Originalmotiv oder zumindest seine Bedeutung nicht geschont und gewürdigt sehen kann, findet trotz allem die Manifestation affekthafter Emotionen statt, die durch das Ursprungsbild ausgelöst wurden. 

Pathosformel und Humor

Die einfache Frage, die diesem Aspekt zugrunde liegt lautet: Kann eine Parodie oder simpler Witz die wirkungsstarken Emotionen in Internetmemen transportieren? In dem kurzen Essay Der Humor (1927) hat Sigmund Freud dargestellt, dass Menschen emotional anspruchsvolle, stressige Situationen vermeiden indem sie Witze machen. Im Gegensatz zu ungesünderen Sublimations- oder Abwehrmechanismen hilft Humor, sich über emotional anspruchsvolle Situationen hinwegzusetzen, ohne die mentale Balance zu verlieren. Nach Freud ist Humor trotzig und kann nicht nur emotional anheben, sondern ebenso distanzierend, sogar befreiend wirken. 

Auch das Verhältnis zwischen Kindern und Erwachsenen wichtig, wenn man bedenkt, dass die Parodie vor allem in Zeiten geistig-künstlerischer Umbrüche auftritt und die jüngere Generation sie nutzt, um sich gegenüber den Älteren zu behaupten. Sie dient der Entlastung von der emotionalen Wirkkraft der Situation, deren Tragweite nicht nur die im Originalbild Dargestellten in eine Art Ohnmachtsgefühl versetzt, sondern ebenso die Betrachter. In der Masse der Meme wird die emotionale Wirkkraft noch deutlicher. Doch wer lacht, zeigt Zähne gegenüber der bedrohlichen Lücke der Handlungsunfähigkeit, Unwissenheit und in Angesicht hilfloser Landesväter. Dass durch Humor eine gefühlte Überlegenheit entsteht, zeigt sich, wenn in Freuds Worten „sich in die Rolle des Erwachsenen, gewissermaßen in die Vateridentifizierung begeben [wird] und die andern zu Kindern herab[ge]drückt“ werden. Der von Freud angeführte Trotz findet sich ebenso in Memen, wenn sie sich in Parodien gegen die Ungunst der realen Verhältnisse auflehnen, wie am Beispiel des Mems, in dem Obama ein Controller in die Hand kopiert wurde.

Daddy-Issues

Abschließend möchte ich noch einige weitere Parodien gemeinsam betrachten. Warburg hatte die Notwendigkeit erkannt, alle Details innerhalb eines Bildes in ihre Interpretation miteinzubeziehen und genau das wird notwendig sein, um die transformierten Affekte zu erkennen. Kommen wir noch einmal zurück zu dem All Obama Situation Room, in dem Mem wurde allen Personen das Gesicht von Obama digital aufgesetzt. Hier ist interessant, dass die Geste von Clinton erhalten bleibt. Der entsprechende Obama hält sich weiterhin die Hand vor den Mund. Schaut man in die Kommentare des reddit-Threats zum Originalbild, dann findet man mehrere Wortmeldungen dazu, wie beeindruckt und schockiert die Betrachter von der Haltung der erstarrten Mimik ihres Präsidenten gewesen sind: “The Gravity of Obama’s expression is almost frightening.”[15] Dieser Kommentar hat 938 Zustimmungspunkte erhalten und wenig später eine humoristische Antwort: „This ist he expression I hope I can mustert he first time my daughter comes home drunk at 1:00 AM.“[16] Eine Antwort, die tief blicken lässt; setzt sie doch den Blick Obamas, dem gewählten Landesvater, im übertragenem Sinn mit dem eines Vaters, der seine Tochter zu später Stunde betrunken in Empfang nimmt, gleich. Gar nicht so tief steckt in diesem Scherz das Freudsche Überlegenheitsprinzip durch die Vateridentifizierung.

Ein weiterer Kommentar in dem reddit-Threat gibt Aufschluss über ein anderes Mem: “They know exactly what they are doing, but they don’t necessarily know the outcome. […] It’s heavy stuff for anyone, and it makes you realize that through all the controversies, and fallacies that come with building a government, these people are just like each other and everyone of us; Humans. They are not just rich people looking for power, they are men and women just like us genuinely want to help to make the world a better place, whether or not they receive the support they truly deserve.”

Wenn ich das lese, weht im Hinterkopf die amerikanische Flagge, liegen weiße behandschuhte Hände auf dem Herzen über Uniformen und ich sehe Chemtrails am strahlend blauen Himmel. Die Regierungsvertreter als moderne Superhelden. Klar, man kann behaupten, dass Superhelden alles andere als normale Menschen sind, aber nichts anderes als ihre Menschlichkeit vermitteln uns die Superhelden-Filme der letzten 15 Jahre. 

Alles auch nur Menschen, mal abgesehen von Superman. Der einzige Alien unter den Superhelden und der einzige im Raum, der kein Erdenmensch ist, sitzt auf dem Platz des Generals. Natürlich stellt Präsident Obama Captain America dar. Clinton wird zu Wonder Woman. Aber auch hier bleibt die Geste der Sprachlosigkeit erhalten. Auf den Bildschirmen sind Screenshots aus einem Ego-Shooter-Videospiel eingesetzt. Ein Detail, dass sich durch mehrere der Meme zieht, und es macht noch einmal deutlich, dass der Gedanke, der in dem Times-Zitat steckt, viele beschäftigt hat.

Easy Targets

Zwei einfache Beispiele, in denen wirkungsstarke Emotionen zum Ausdruck gebracht werden, sind zum einen das Situation Room Shocked Cat Meme: Hier wird der Schock, den das Bild verursacht, um eine Katze ergänzt. Katzen sind selber memetisch im Internet, es gibt kaum eine Gruppendiskussion in den Foren, in der nicht früher oder später mittels eines Katzen-Mems die Meinung zum Ausdruck gebracht wird. Hier ist es ein in die Knochen fahrender Schreck, wie ihn ein knallender Schuss verursachen kann. 

Ein weiteres Beispiel ist das Situation Room Sad Keanu Meme. Dem Situation Room wurde ein freigestelltes Bild von dem Schauspieler Keanu Reeves, der traurig zu Boden schaut, hinzugefügt.

Auch hierbei handelt es sich um ein eigenständiges Internetmem. Er war von einem Paparazzo  auf einer Bank sitzend und auf den Boden blickend fotografiert worden. In sich gekehrte Traurigkeit wird mit dem Mem in verschiedenen Zusammenhängen und ihren Umkehrungen zum Ausdruck gebracht. Dem Situation Room wird das Sad Keanu Mem als emotionale Erweiterung hinzugefügt. An diesen beiden Beispielen und dem oben genannten Frowning Flowergirl zeigt sich besonders deutlich, dass die Frage der Meme als symbolische Geste zu einem anderen Zeitpunkt genauere Betrachtung erfordert. Schwieriger wird es, wenn man das Situation Room Velociraptor Mem betrachtet.

Auf den ersten Blick wurde dem Originalbild nur der Kopf eines Velociraptors hinzugefügt. Doch auch hier handelt es sich um ein memetisches Detail mit Hintergrundgeschichte. Der Velociraptor ist 2008 als Philosoraptor auf einem T-Shirt veröffentlicht worden. Kurze Zeit später tauchte er zum ersten Mal als Advice Animal Image Macro auf und stellt seitdem Fragen wie zum Beispiel: „If actions are mighter than words why is the pen mightier that the sword?“ Der Dinosaurier ist damit zu einem Symbol für die Versenkung in metaphysische Fragestellungen und unlösbare Paradoxe geworden. 

Warum taucht er nun im Situation Room auf? Eine Möglichkeit könnte die doppelte Partizipationslücke sein. Die für die Betrachter ungreifbaren US-Regierungsvertreter sitzen in dem Situation Room, die ebenso handlungsunfähig einer ungreifbaren Situation zusehen. Definitiv hat das Situation Room Mem einen denkwürdigen Ursprung, dessen Tragweite zum Zeitpunkt der Geschehnisse noch nicht erfasst werden konnte. 

Und es ist eine berechtigte Frage, wieso ausgerechnet dieses Bild im Zusammenhang mit den Ereignissen von der US-Regierung veröffentlicht wurde. Aber vielleicht kann nur der Philosoraptor eine Antwort darauf geben. 

 

Dr. Maria L. Felixmüller promovierte nach dem Studium der Fotografie in Philosophie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig. Sie arbeitet als Künstlerin, Lehrende und Philosophin in Wien. Aktuell ist ihre künstlerische Forschung der historischen Verknüpfung zeitgenössischer Internetmemkultur mit den Bildtheorien Aby M. Warburgs gewidmet. Zuletzt ist 2018 im zu Klampen Verlag ihr Buch »Produktive Unordnung – Metamorphosen der Wunderkammer bei Aby Warburg und im Internet« und 2019 in Kunstforum Int. »21 Fragmente einer Dialektik des Staunens« erschienen.

 

Anmerkungen

[1] Warburg, Aby M.: „Reise-Erinnerungen aus dem Gebiet der Pueblo Indianer in Nordamerika -1923“, in: Weigel, Sigrid, Martin Treml und Perdita Ladwig (Hrsg.): Aby Warbg. Werke Einem Band, 1. Aufl., Frankfurt a. Main: Suhrkamp Verlag 2013, S. 567–600, hier S. 582.

[2] Semon, Richard: Die Mneme als erhaltendes Prinzip im Wechsel des organischen Geschehens, 1. Aufl., Leipzig: Engelmann Verlag 1908; Semon, Richard: Mnemic psychology, übers. von. Bella Duffy, London: G. Allen & Unwin, ltd 1923; Semon, Richard: Das Problem der Vererbung „erworbener Eigenschaften“ 1912, Print on demand Aufl., Saarbrücken: VDM Verlag Dr. Müller 2007; Hering, Ewald: Über das Gedächtnis als eine allgemeine Funktion der organisierten Materie., 1. Aufl., Wien: Akademie der Wissenschaften 1870; Jung, C. G.: Die Psychologie der unbewussten Prozesse: ein Überblick über die moderne Theorie und Methode der analytischen Psychologie, 2. Aufl Aufl., Zürich: Rascher 1918 (Schweizer Schriften für allgemeines Wissen, Heft 1); Jung, C. G.: Psychologische Typen, Zürich: Rascher 1921; Vignoli, Tito: Mythus und Wissenschaft: eine Studie, Leipzig: F. A. Brockhaus 1880.

[3] Warburg, Aby M.: „Dürer und die Italienische Antike 1905“, in: Weigel, Sigrid, Martin Treml und Perdita Ladwig (Hrsg.): Aby Warbg. Werke Einem Band, 1. Aufl., Frankfurt a. Main: Suhrkamp Verlag 2013.

[4] Shifman, Limor: „Memeology Festival 05. Memes as Ritual, Virals as Transmission? In Praise of Blurry Boundaries – Culture Digitally“; Shifman, Limor: Meme: Kunst, Kultur und Politik im digitalen Zeitalter, übers. von. Yasemin Dincer, 1. Aufl., Berlin: Suhrkamp Verlag 2014; Shifman: „Memeology Festival 05. Memes as Ritual, Virals as Transmission?“; „A Meme is a Terrible Thing to Waste: An Interview with Limor Shifman (Part One)“, http://henryjenkins.org/2014/02/a-meme-is-a-terrible-thing-to-waste-an-interview-with-limor-shifman-part-one.html (abgerufen am 16.06.2016).

[5] Vgl. dazu: „A Meme is a Terrible Thing to Waste: An Interview with Limor Shifman (Part One)“, http://henryjenkins.org/2014/02/a-meme-is-a-terrible-thing-to-waste-an-interview-with-limor-shifman-part-one.html (abgerufen am 16.06.2016); Shifman: Meme.

[6] Ullrich, Wolfgang: „Inverse Pathosformeln. Über Internet-Meme“, in: Pop-Zeitschrift. (15.10.2015), http://www.pop-zeitschrift.de/2015/10/15/social-media-oktobervon-wolfgang-ullrich15-10-2015/ (abgerufen am 19.05.2016).

[7] Zumbusch, Cornelia: Wissenschaft in Bildern: Symbol und dialektisches Bild in Aby Warburgs Mnemosyne-Atlas und Walter Benjamins Passagen-Werk, Akademie Verlag 2004, S. 20; Warburg, Aby M.: „Fragmente der Ausdruckskunde“, in: Ulrich Pfisterer und Hans Christian Höhnes (Hrsg.): Aby Warbg. – Gesammelte Schriften – Stud. Gesammelte Schriften IV, Bd. IV, Berlin: Walter de Gruyter 2015.

[8] Warburg: „Reise-Erinnerungen aus dem Gebiet der Pueblo Indianer in Nordamerika -1923“, S. 579.

[9] „The Situation Room“, in: Know Your Meme , https://knowyourmeme.com/memes/the-situation-room (abgerufen am 22.04.2019).

[10] Ebd.

[11] Jenkins, Henry u. a.: Confronting the Challenges of Participatory Culture: Media Education for the 21st Century, unknown edition Aufl., Cambridge, MA: The MIT Press 2009.

[12] Scherer, Michael: „Moment of Triumph: ‘Visual on Geronimo’“, in: Times Online (2011), http://swampland.time.com/2011/05/02/inside-the-situation-room-weve-idd-geronimo/ (abgerufen am 22.04.2019).

[13] „White House photo of Obama and his national security team following events in the Bin Laden operation“, B. Reddit.

[14] Davison, Patrick: „The Language of Internet Memes“, in: Mandiberg, Michael (Hrsg.): Soc. Media Read., New York: New York University Press 2012, S. 120–134, hier S. 132.

[15] „White House photo of Obama and his national security team – Reddit-Threat“.

[16] Ebd.