Der »Orient« in der inszenierten Portraitfotografievon Maja Tabea Jerrentrup19.8.2019

Die Aneignung des Fremden

Viele Bildmotive in der inszenierten Porträtfotografie[1] referieren auf Abwesendes: Vergangene Zeiten sowie ferne Kulturen werden häufig zum Bildthema. Dabei fällt auf, dass bestimmte Epochen und kulturelle Inspirationen besonders gerne gewählt werden. Häufig sieht man etwa Referenzen zur Zeit des Barock und Rokoko mit opulenten Requisiten, großen Kostümen, viel Schmuck und Pomp, manchmal begleitet von deutlicher Erotik, wilder Ausgelassenheit oder Melancholie, die den drohenden Verfall ankündigt. Auch die Zeit des Mittelalters ist populär, oft präsentiert in mittelalterlichen Roben vor wilder Natur – der Eindruck epischer Abenteuer entsteht. Sehr präsent sind zudem „Orientthemen“ mit glitzernden Bauchtanzkostümen, aufwändig bestickten Kleidern, raffinierten Hennabemalungen, Bridal Sets und Bindis, fotografiert vor wilder Natur oder in Arrangements mit bunten Teppichen, geschwungenen Lampions und  geschnitzten Holzmöbeln.

Ob Barock, Mittelalter oder Orient, diese Motive haben einige Gemeinsamkeiten: Räumlich oder zeitlich Abwesendes ist ihr Thema, sie sind aber kaum geprägt von Wissen über dieses Abwesende oder einer ernsthaften Auseinandersetzung mit dem Gegenstand. Stattdessen werden offenbar Halbwissen und Klischees genutzt. Im Folgenden möchte ich mich auf die Darstellung von geografisch Fernem fokussieren, weil sie – insbesondere die Darstellung „orientalischer“ Motive – eine besondere aktuelle Brisanz besitzt.

Der Orient als Motiv

Der Repräsentation des Fremden liegt oft „eine Denkweise [zugrunde], die sich auf eine ontologische und epistemologische Unterscheidung zwischen ‚dem Orient‘ und (in den meisten Fällen zumindest) ‚dem Okzident‘ stützt“ (Said 1978:11). Diese Dualität findet sich, wie Said zeigt, seit der Antike im europäischen Denken. Sie tritt sowohl bei Staatsdienern und Kolonialherren als auch bei Dichtern und Denkern auf und hilft bei der Konstruktion der eigenen Identität in Abgrenzung zum Orient. Eine genaue Definition und geographische Abgrenzung des Orients fällt selbstverständlich nicht leicht, da es sich primär um ein mentales Konzept handelt (vgl. Jerrentrup 2018:80). Im Vorliegenden ist die räumliche Eingrenzung besonders schwierig, da zentrale Prozesse wie das Abgrenzen, das Aus-dem-Kontext-Lösen und Zuschreiben besonders zahlreiche, sowie unterschiedliche kulturelle Kontexte außerhalb des als Okzident begriffenen, eigenen Bereichs betrifft. Man kombiniert zum Beispiel einen Rock aus Rajasthan mit einem ägyptischen Bauchtanzgürtel, einem Batiktuch aus Bali als Oberteil, afghanischen Ketten, einem Kopfschmuck aus dem thailändischen Tanz und einer Handhaltung aus dem indischen Bharata Natyam.

Die Inszenierenden setzen sich in der Regel nicht nur kaum mit dem kulturell Fremden auseinander, sondern laden es auch mit eigenen Inhalten auf, stellen es in starken Kontrast zu ihrer eigenen Lebenswelt und vereinnahmen es somit für ihre eigenen Zwecke. Auch wenn seit einiger Zeit das Phänomen der „Cultural Appropriation“ beispielsweise hinsichtlich bestimmter Kleidungsstücke oder Frisuren vermehrt diskutiert wird (vgl. z.B. Daynes 2008: 164 f.), werden solche Aspekte in der entsprechenden Szene kaum angesprochen – als Kunst oder der Kunst nahe verstanden reklamiert man für sich die Freiheit, visuelle Elemente anderer kultureller Kontexte auch zweckentfremdet nutzen zu dürfen. [2]

Das Fremde als „Abwesendes“ legt schon einen Grund für die Inszenierung nahe: Offenbar besteht eine diffuse, nostalgische Sehnsucht (vgl. Fischer 1984:52). Im 18. Jahrhundert bezog sich der Begriff „Nostalgie“ auf das Heimweh eines Soldaten, also auf die räumliche Entfernung und wurde später auf die zeitliche Abwesenheit übertragen (vgl. Schwarz 2009:351). „The nostalgic experience is usually described as a contemplative, bitter-sweet mood, combining the sweetness of the past memory and the sorrow of its passing“ (ebd. 351). Offenbar wird im Fremden eine eigene Vergangenheit gesehen. Dies mag zum einen die persönliche Vergangenheit, die eigene Kindheit betreffen, in der orientalische Mythen präsent gewesen sein dürften. Wie gerade der Orient über biblische Anekdoten und Geschichten aus 1001 Nacht hinaus solche Mythen beflügelt, beschreibt die Historikerin Susan Nance: 

„For the first 150 years of American history, the most broadly influential people to speak about the Eastern world were people who played Eastern by presenting themselves in Eastern personae – or ‚Oriental‘ or ‚Moslem‘ or ‚Hindoo‘ persona as the patter might have required. Some of these individuals were native-born Americans, some were migrants or immigrants from North Africa, West Asia, and South Asia. They included equal numbers of professional and amateur entertainers, some of whom performed in a serious attempt to depict foreign peoples, some of whom performed a kind of Eastern minstrelsy only in jest. In character, these performers told stories about affluent abundance, guilt-free leisure, spiritual truth, natural manhood, the mysteriously exotic, feminine self-discovery, romantic love, racial equality, and the creative possibilities for individuation in a market economy“ (Nance 2009:1-2). 

Aber nicht nur Erinnerungen an Geschichten, an die Gedankenwelt der eigenen Kindheit sind hinsichtlich des Nostalgiegefühls von Bedeutung, in evolutionistischer Manier scheint die Vorstellung vom räumlich abwesenden Orient auch einer zeitlich abwesenden, eigenen Vergangenheit parallelgestellt zu werden, als Reminiszenz an eine Zeit, die „orientalischer“ gewesen sein mag. Nostalgische Vorlieben sind „gespeist aus defizitär erfahrener Gegenwart“ (Fischer 1984:217), beinhalten einen „sense of the past“ (Coleman 2015:72), dessen fehlende historische Akkuratesse für den Nostalgiker irrelevant ist. Was genau fehlt der Gegenwart und findet sich in jenen Motiven? [3]

Einen nennenswerten Aspekt dürfte der Wunsch nach einem Leben in Einklang mit der, bzw. Integration in die Natur darstellen. Er spiegelt sich nicht nur in Outdoor-Motiven, sondern spielt auch bei Indoor-Inszenierungen eine Rolle: Die Materialien der Stoffe und Schmuckstücke wirken ursprünglich, eher in Handarbeit gefertigt als industriell, die Settings erinnern oft an Beduinenzelte. 

Mit Natur werden auch andere Freizeitaktivitäten wie Wandern in Verbindung gebracht wird: 

„Woher stammt diese Sehnsucht nach Natur? … Eine typische Antwort auf diese Frage(n) lautet, Sehnsucht nach Natur sei eine Reaktion auf die als zunehmend naturfern empfundenen Lebensbedingungen unserer modernen Zivilisation…. Natur als authentische Gegenerfahrung… Diese Antwort ist allerdings unbefriedigend. Sie basiert nämlich auf der fragwürdigen ontologischen These, dass es ein natürliches menschliches Grundbedürfnis nach Natur gebe“ (Kirchhoff et al. 2012: 10). 

Kirchhhoff et al. unterscheiden zwei Gründe dafür, dass Freizeit naturnah verbracht wird: Erstens den Wunsch nach Förderung der physischen und psychischen Gesundheit, und „zweitens die Sehnsucht nach Natur, die sich daraus ergibt, dass Natur in unserer Kultur mit positiven Bedeutungen assoziiert ist“ (ebd. 11). So gesehen ist Natur als Wert eng verbunden mit einem kulturellen Werteset, in dem die Natur – keineswegs selbstverständlich – weniger als bedrohlich, denn als erstrebenswert wahrgenommen wird. Wenn man die Tradition dieser Auffassung betrachtet, kommt die europäische Epoche der Romantik in den Sinn: In Antwort auf die Aufklärung, die eine Entzauberung der Welt mit sich brachte, und in Antwort auf die kunsthistorische Epoche des nach Formvollendung strebenden Klassizismus, ging es den Romantikern um das Unbezähmbare der wilden Natur, um mystische Unendlichkeit. Statt des Lichts der Vernunft stand das Düstere, Unerklärliche im Fokus der Romantik. So gesehen befindet sich der Wert, der der wilden Natur beigemessen wird, durchaus im Kontext der als naturfern begriffenen modernen Lebensbedingungen. „Weiterhin hat in den letzten Jahren ein, wiederum insbesondere an Jugendliche und junge Erwachsene adressiertes Image an Beliebtheit gewonnen, das die Großstadt der Gegenwartsgesellschaft nicht als idyllische Lebenswelt, sondern als urbane Wüste thematisiert, in der es darum geht, mit Haltung und Stil den Alltag zu meistern“ (Kautt 2011:103). Ruhe und Ausgleich bietet wiederum die Integration der Natur, die im Bild des Fremden, naturnah Lebenden Ausdruck findet. 

Ein weiterer Aspekt dürfte im Bedürfnis nach klaren Strukturen, nach Ritualen, Bedeutungen und Abgrenzungen liegen, welche ihren visuellen Ausdruck in besonderem Körperschmuck und Requisiten finden. Man stellt sich ein Leben vor, das das Sicherheitsbedürfnis weit mehr erfüllt als der typische postmoderne Alltag. In dieser Vorstellungsweise kontrolliert beispielsweise das Ritual Aspekte des Lebens. Zudem wird sich der Orient als „zeitlos“ imaginiert (vgl. Said 1978:70), eine Vorstellung, die nicht nur dem Wunsch nach einer gewissen Kontrolle über die eigene Zukunft begegnet, sondern auch den Wunsch nach Zugehörigkeit, nach kultureller Identität anspricht. „Kulturelle Identität meint individuell das Selbstverständnis als kohärentes Wesen mit bestimmten Eigenschaften und einer Geschichte; bezogen auf eine Kultur das gemeinsame Selbstverständnis ihrer Angehörigen“ (Schönhuth 2005:91). Auch wenn kulturelle Identität nicht wie ein Hemd gewechselt werden kann (vgl. Antweiler 2006:24) – eine größere Flexibilität und Wählbarkeit diesbezüglich bringt auch eine Instabilität mit sich. 

So erfüllen die Bildmotive hinsichtlich des Bedürfnisses nach kultureller Identität mehrere Aufgaben: Die Inszenierung ermöglicht den Traum von einer engen, konkreteren und das Sicherheitsbedürfnis erfüllenden kulturellen Identität, die in zahlreichen visuellen Markern wie besonderen Kleidungs- und Schmuckstücken Ausdruck findet – selbst wenn diese Kultur nur Produkt der eigenen Fantasie ist. Für viele Akteure zielt die Inszenierung darüber hinaus aber auch auf ein Bedürfnis nach Zugehörigkeit, das über eine nur imaginierte Gruppe hinausgeht: Man ist tatsächlich Teil der Gruppe der Orientmodels. Hierbei handelt es sich zunächst nur um eine kurzzeitige, aber seinen Interessen entsprechend selbst gewählte Option, die das Potential hat, über weitergehende Aktivitäten – häufigere Shootings, Engagement im orientalischen Tanz etc. – zu einer Teilidentität zu werden. 

Edward Saids Gedanken (Said 1978:96) folgend bietet diese inszenierte und imaginierte Kultur außerdem einen Gegenpol zur eigenen kulturellen Identität und macht das Eigene damit griffiger: Identität kann „ohne Alterität nicht gedacht werden“ (Wulf 2006:43), „ein ‚Wir-Bewußtsein‘ kann sich … nur in Unterscheidung zu anderen herausbilden“ (Niekisch 2002:27, vgl. auch Hepp et al. 2003:11). Rosaly Magg beschreibt dies mit Blick auf die Reisefotografie folgendermaßen: „Indem die Fotografierten als rückständig bewertet werden, wird man selbst erhöht. Der Fortschritt, den man selbst erreicht hat, wird so bestätigt“ (Magg 2013:43). Damit zeigt sich wiederum der Bezug zur Nostalgie, die ambivalente Sehnsucht nach einer Zeit vor gewissen „Fortschritten“ – wobei dennoch gilt: „Der Fortschritt, den man selbst erreicht hat, so zweifelhaft er heute manchmal eingeschätzt werden mag, wird so bestätigt: ‚zurück‘ will niemand“ (Thurner 1992: 26). Im Orient-Shooting probiert das Model also so etwas wie eine andere Kultur und kann im Vergleich ihre eigene besser definieren.

Auch die Rolle der Frau ist von Bedeutung, wenn es um die betreffenden Bildmotive geht. Beliebte Schlagworte wie „Kinder, Küche und Karriere“, die Diskussion um das Eva-Prinzip und immer wiederkehrende Medienberichte zeigen, wie problematisiert diese Rolle nach wie vor in der sogenannten westlichen Gesellschaft ist: Einerseits haben sich Frauen mehr Freiheit und zumindest gesetzliche Gleichberechtigung erkämpft, andererseits kann von gleichen Chancen oft keine Rede sein, und auch die Biologie spricht in manchen Hinsichten eine andere Sprache – „Biology is destiny“, wie Simone de Beauvoir sagte –, was aufgrund von Mehrfachanforderungen zu einer Überlastung führt (erkennbar z.B. an Werbebildern, vgl. Steinbeck 2002:435). Zudem bleibt das Gefühl, eine Frau zu sein, also die Gender-Identität, manchmal auf der Strecke. So stellt man beispielsweise in beruflicher Hinsicht eine gewisse Gleichschaltung im Sinne einer Anpassung an die Männer fest, die sich in der typischen Bürokleidung – Blazer und Bluse als Pendant oder Imitat von Hemd und Jackett – niederschlägt, heuchlerisch gewissermaßen, denn trotzdem sind die Chancen für Frauen, in höheren Positionen zu landen, deutlich geringer. Das Schönheitsideal tendiert vermehrt auch für Frauen in Richtung des sportlichen, durchtrainierten Körpers. Charakterlich werden Eigenschaften wie Selbständigkeit und Durchsetzungsfähigkeit gewürdigt, Eigenschaften, die (traditionell) eher als maskulin wahrgenommen werden. [4]

Im starken Kontrast hierzu steht die typische europäische Sicht auf die orientalische Frau, „ist sie doch […] der Inbegriff der unterdrückten Frau, die sich auch aufgrund der ihr auferlegten Restriktionen, wie das Tragen eines Kopftuchs, aus dem gesellschaftlichen Leben heraushält“ (Gökce 2015: 3). Davon völlig abgekoppelt erscheint die Fantasie-Orientalin der (Amateur-) Fotografie. Sie präsentiert sich feminin, gerne in knapper Kleidung und mit viel Schmuck, aber trotz ihrer Erotik elegant und geheimnisvoll. Männer, denen die Frauen gefallen möchten, oder gar eine Konkurrenz zu Männern, kommen in der mikroskopischen Welt dieser Fotos nicht vor (vgl. Shay 2016:69). Auch werden die Bildresultate zwar innerhalb der Szene stolz gezeigt, eignen sich aber nur bedingt dazu, Männer außerhalb der Szene anzusprechen. Häufig erschließen sich für den Szene-Outsider die Themen nicht, außerdem ist der Unterschied zum Real-Life-Aussehen meist deutlich und lässt damit ggf. einen ungünstigen Vergleichsstandard entstehen.  

Der nächste Punkt schließt sich an: Inszenierte Fotografie als Vehikel für den Ausflug in eine andere Welt zu nutzen hat besondere Vorteile. Es ist ein kurzer Ausflug ohne großen zeitlichen und finanziellen Aufwand und ohne Konsequenzen in eine Welt, die nach eigenen Vorstellungen und für den eigenen Gebrauch selbst gestaltet ist. Dabei findet anders als beim Reisen keine Konfrontation statt, die die Illusion stören könnte, weder ästhetische Störelemente wie ein Fernseher im Beduinenzelt noch psychische oder soziale Irritationen, etwa die Information, dass eine prinzessinnenartig geschmückte indische Braut ihren Bräutigam kaum kennt und in ihrer künftigen Familie vorerst eine oft schwierige Position einzunehmen hat. Bei Orient-Shootings hingegen hält die Fotografie die attraktivsten Momente der Inszenierung fest, durch Bearbeitung werden sie noch optimiert und versichern der Fotografierten die eigene exotische Attraktivität. 

Eine weitere Beobachtung betrifft eine gewisse Selbstorientalisierung: Auch Menschen mit Herkunft aus einem jener exotisierten kulturellen Kontexte tragen selbst oft zu solchen fotografischen Umsetzungen bei. Dies mutet konträr zum zuvor genannten Statement der Indianerstämme an. Tatsächlich geht die Initiative für solche Themen aber nicht selten von den betreffenden Frauen aus und sie liefern dann die entsprechenden Kostüme und/oder Requisiten. Die jeweilige kulturelle Herkunft spielt dabei eine der Optik und Gesamtatmosphäre klar untergeordnete Rolle, nicht selten stammen die Elemente gar nicht (nur) aus dem eigenen Kontext. Auch in diesem Fall werden sie weniger als Signifikanten für eine bestimmte kulturelle Identität denn als Requisiten in einem Projektionsraum eigener Sehnsüchte wahrgenommen. Hinzu kommt hier eine Auseinandersetzung mit der eigenen kulturellen Identität als „Orientalin“, zu der die märchenhaften Fotos ein Statement abgeben mit dem sich die Betreffende klar vom Stereotyp der unterdrückten Orientalin abhebt. 

Der Orient als kreative Aneignung

Diese Art der inszenierten Fotografie kann also als ein Antesten, ein kleines Erlebnis[5] einer anderen Realität beschrieben werden, für das die Fotografie die Grundlage und Rechtfertigung bietet – ohne die Fotografie würde es nicht stattfinden (vgl. Magg 2013:44). Unnötig ist dabei die oft mühsamere Bereitschaft, das Fremde tatsächlich kennenzulernen oder die Realität – sei es die „orientalische“ oder die eigene – so verändern zu wollen, dass sie das besitzt, was die Betreffenden in ihr vermissen. So gesehen schlägt sich in den inszenierten Orient-Bildern eine passive Haltung nieder, eine Flucht in die Fantasie. Hier passt der Begriff von Kitsch: Kitsch entspringt der Sehnsucht nach dem Guten, nach einer utopischen Gegenwelt (vgl. Gyr 2005: 362). Seit Jeff Koons genießt Kitsch zudem den Status einer neuen Avantgarde (vgl. Liessmann 2002:15), der Übergang von Kitsch zu Kunst wird zunehmend als fließend betrachtet. 

Allerdings lässt sich die fotografische Umsetzung „ferner“ Themen auch anders begreifen: Es ist eine kreative Aneignung unterschiedlicher Kontexte. Dabei geht es nicht darum, jene Kontexte zu imitieren oder kopieren, sondern sich lediglich Teilen ihrer Ästhetiken zu bedienen, sie als Inspirationen zu wählen, um dann eigene Botschaften zu liefern vor dem Hintergrund des eigenen kulturellen Kontexts. Dies erklärt auch gewisse Veränderungen überlieferter Aspekte, die sich in den Fotos finden. Manches wird den speziellen Bedürfnissen des Mediums „Fotografie“ unterworfen. Ein einprägsames Beispiel stellen Mehendis dar, Hennamuster, die in vielen als „orientalisch“ beschriebenen Ländern typischerweise auf die Hände, vor allem auch auf die Handinnenflächen gemalt werden. Nun sollen die Hände in der Portraitfotografie aber meist nicht zu sehr in Konkurrenz zum eigentlichen Fokus, dem Gesicht stehen. So entstand die Idee, mehendiartige Muster im Gesicht aufzutragen. Zudem brauchte es eine Methode, die semipermanenten Tattoos rascher und ohne Trockenzeit aufzumalen und ebenso schnell abwaschen zu können. Hier empfiehlt sich die Nutzung alternativer Farben, etwa eines braunen Kajalstift. Damit ändert sich auch die Technik der Bemalung, ein Kajalstift wird wie ein Bleistift gehalten, eine klassische Mehenditube liegt umgekehrt in der Hand und erfordert eine Gleichzeitigkeit von Malen und Druck auf die Tube. Ein weiteres Beispiel stellen klassische Bauchtanzsets dar, die, um bei kleinen Bildausschnitten zur Geltung zu kommen, neu zusammengestellt werden, etwa, indem der Gürtel als Kopfschmuck Verwendung findet.

Neben der Unterwerfung unter die Spezifika des Mediums kann die Zusammenstellung von Elementen aus unterschiedlichen kulturellen Kontexten als neue Einheit auch im Sinne einer bestimmten Melange-Ästhetik und/oder einer bestimmten Aussage verstanden werden. Ein Beispiel in diese Richtung bietet die amerikanische Erfindung des „Tribal Bellydance“: 

„Because tribal is an American construct, its practitioners typically situate its authenticity in the artist’s right to create (through fusion) statements that reflect individually and immediately relevant tensions and realities“ (Deagon 2016: 376) 

Wie beim Tribal Bellydance geben auch die Akteure der inszenierten Portraitfotografie bewusst oder unbewusst Statements ab und man kann, wie gezeigt, von bestimmten Motivationen ausgehen, die im Orientthema ihren Ausdruck finden. Anders als beim Tribal Bellydance besteht aber kein dauerhaftes Commitment dem Thema gegenüber, es entsteht keine (Sub-)Kultur, die sich speziell mit diesem Thema auseinandersetzt und es weiterentwickelt. Für die Beteiligten steht meist bald die nächste Motividee ins Haus, die u.a. aus ähnlichen defizitären Erfahrungen der Gegenwart resultieren, die wieder etwas räumlich und/oder zeitlich Abwesendes thematisieren mag. Die „Fotos vom Orient“ bleiben als Erinnerung an eine (teilweise) mit anderen geteilte Fantasie vom Orient und als Teil eines individuellen „do-it-yourself identity kit“, das Konsumenten für ein „customized self“ nutzen können (Buechler 2016: 219, vgl. auch Elliott 2016: 70) und ihnen beim Handling ihrer eigenen individuellen und kulturellen Identität hilft.

 

Maja Tabea Jerrentrup ist Professorin an der Ajeenkya D Y Patil University in Pune, Indien.
Anmerkungen

[1] Gemeint ist hier in erster Linie die Szene der inszenierten Portraitfotografie, auch Modelfotografie genannt, in der sich vor allem engagierte Amateure und Semiprofis aufhalten und die mehrere 100 000 Mitglieder in Deutschland zählt (vgl. Jerrentrup 2018:9 ff.). Es bestehen deutliche Überschneidungen zu reinen Kundenshootings, zu Modemagazinstrecken und zur Werbung.

[2] Ein Gegenbeispiel ist die Victoria Secret Fashion-Show von 2012, bei der ein Mannequin einen besonderen indianischen Kopfschmuck trug. „‘Herabwürdigend‘, findet Emy Zah, der Sprecher der Navajo Nation… Einen solchen Kopfschmuck trügen Indianer als Zeichen besonderer Auszeichnung. ‚Wir mussten Fürchterliches ertragen, um zu überleben und sicherzustellen, dass unsere Lebensweise erhalten bleibt‘, so Zah weiter. In einer offiziellen Erklärung… schreibt Ruth Hopkins, Anwältin dreier großer amerikanischer Indianerstämme: ‚Wir sind Menschen, kein Trend. Wir tragen keine Kostüme. Wir tragen Kleidung und jedes einzelne Stück bedeutet etwas Besonderes‘“ (SZ 2012).

[3] Die folgenden Aspekte beruhen auch auf der Befragung von 20 Modellen, die an „Orientdays“ (Fotoaktionstagen) teilgenommen haben.

[4] Eine Annäherung an die sehr kontroversen Begriffe „Maskulinität“ und „Feminität“ findet sich beispielsweise bei Erdmann in Anlehnung an Hofstede (Erdmann: 2008, 19).

[5] Ähnlich auch die selektive Adaption fremdländisches Essen betreffend (vgl. Buettner 2008:866).

 

Literatur

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