Influencer und ihre Multi-Channel-Networksvon Andreas Gebesmair26.8.2019

Konfliktreiche Geschäftsbeziehungen

[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 13, Herbst 2018, S. 30-35]

Eine breitere Öffentlichkeit nahm von Multi-Channel-Networks (MCN) erst Notiz, als diese in die Kritik kamen. Zwischen Oktober 2014 und Frühjahr 2015 verließen gleich vier der erfolgreichsten YouTuber Deutschlands das Netzwerk Mediakraft, worüber in der Presse ausführlich berichtet wurde. Den Anfang machte Florian Mundt, der unter dem Namen LeFloid auf YouTube das Zeitgeschehen humorvoll für die jugendliche Zielgruppe kommentiert und wegen seines Interviews mit Bundeskanzlerin Angela Merkel auch weiteren Bevölkerungskreisen bekannt wurde. Ihm folgte der Gamer Simon Unge, der seinen Abgang von Mediakraft in einem Video auf YouTube wortreich begründete und mit dem Unternehmenspartner schonungslos abrechnete. Wenig später gaben die Musiker und Comedians von ApeCrime ebenso wie die Beauty-Bloggerin Nilam ›Daaruum‹ Farooq bekannt, dass sie nicht mehr mit dem deutschen MCN zusammenarbeiten wollen.

Multi-Channel-Networks wie Mediakraft wurden mit dem Ziel gegründet, sog. Influencer, also jene Channel-Betreiber, die sich in der jugendlichen Zielgruppe besonderer Beliebtheit erfreuen, bei der Entwicklung und Vermarktung ihrer Channels zu unterstützen. Sie stellen ihnen professionelle Produktionsmittel zur Verfügung, organisieren den Austausch mit anderen Kreativen, beraten sie in rechtlichen, technischen und finanziellen Belangen und kümmern sich vor allem um deren Vermarktung, indem sie Werbepartner für Produktplatzierungen und Sponsoring vermitteln oder die Channelbetreiber und ihre Inhalte auch auf anderen Medienplattformen crossmedial verwerten. Gerade diese Vermarktungsfunktion soll aber, so die Kritik der YouTuberinnen und YouTuber, das deutsche Multi-Channel-Network nicht ausreichend erfüllt haben. Dazu kamen Beschwerden über unfaire Verträge, die den Firmen einen unangemessen hohen Anteil an den Erlösen der Channel-Betreiber garantierten.

Die Initiative zur Auflösung der Kooperationsbeziehungen geht aber nicht nur von den Influencern aus. Auch MCNs haben sich schon von Channel-Betreibern getrennt. Viel Aufmerksamkeit erfuhr die Entscheidung des US-amerikanischen Unternehmens Maker Studios, den weltweit erfolgreichsten YouTuber PewDiePie nicht weiter zu betreuen. Der Schwede Felix Kjellberg, wie PewDiePie mit bürgerlichem Namen heißt, geriet mit einem bizarren Experiment, in dem er zwei über eine Crowdworking-Plattform engagierte Männer gegen Entgelt tanzen und dabei ein Schild mit der Aufschrift »death to all jews« in die Kamera halten ließ, ins Kreuzfeuer der Kritik. Obgleich sich der prominente YouTuber im Video von der Aussage distanzierte und auf die gesellschaftskritische Dimension des Experiments verwies, war er in den Medien dem Vorwurf ausgesetzt, mit antisemitischen Äußerungen leichtfertig und unreflektiert umzugehen. Wenige Tage nachdem das »Wall Street Journal« ausführlich über PewDiePie berichtete, trennten sich die Maker Studios, die zu diesem Zeitpunkt schon Teil des Walt Disney-Konzerns waren, von ihrem einträglichsten Influencer. Gleichzeitig kündigte auch YouTube den Partnervertrag, mit dem der YouTuber an den Werbeeinnahmen beteiligt war.

Die prekären Beziehungen der Influencer zu ihren Multi-Channel-Networks erinnern an das Verhältnis zwischen Musikern und Labels. Auch aus der Geschichte der Popmusik sind zahlreiche Zerwürfnisse zwischen den Kreativen und ihren musikindustriellen Partnern überliefert. Man denke etwa an den Konflikt zwischen Johnny Cash und seinem Label Columbia Records, das sich weigerte, sein gesellschaftskritisches Konzeptalbum »Bitter Tears« zu promoten, weil es in den Augen der Manager nicht den Erwartungen von Country-Music-Fans entsprach. Fragen der künstlerischen Autonomie waren auch der Grund, warum Prince den Vertrag mit Warner Bros. auflösen wollte. Im Zuge dieses legendären Streits änderte Prince seinen Namen in ein unaussprechliches Zeichen (später als »Love Symbol #2« bezeichnet) und schrieb sich bei Auftritten »Slave« ins Gesicht, um seinem Unmut über das Label Ausdruck zu verleihen.

Klagen über die Einschränkung der künstlerischen Freiheit stehen meistens im Zentrum der Streitigkeiten. Darüber hinaus werfen die Musikerinnen und Musiker den Unternehmenspartnern auch vor, sie zwar mit unfairen Verträgen langfristig zu binden, bei der Vermarktung ihrer Produkte aber nicht ausreichend zu unterstützen. Die Labels hingegen geben gerade bei kontroversiellen Künstlern oft dem Druck der Öffentlichkeit nach und verweigern ihnen die Unterstützung, sobald die Künstler zu sehr im Zentrum der Kritik stehen. Das war bei Columbia und Johnny Cash so, bei EMI und den Sex Pistols, aber auch jüngst – mit entgegengesetztem politischen Vorzeichen – bei BMG und den Rappern Kollegah und Farid Bang.

Dieser fundamentale Widerspruch zwischen den Ansprüchen der Kreativen und den Interessen der Industrie, der vielen Geschäftsbeziehungen in der Kulturindustrie innewohnt, scheint nun in der YouTube-Welt wiederzukehren. Auch die Konflikte der YouTuberinnen und YouTuber mit den MCNs werden gerne als Gegensatz von kreativer Selbstbestimmung und den Zwängen der Geschäftswelt interpretiert. Doch ist damit wirklich das Wesentliche dieser prekären Beziehung benannt? Bei genauerer Betrachtung zeichnet sich vielmehr ein tiefgreifender Wandel der Medienindustrie ab, der sich aus wirtschaftssoziologischer Perspektive als Konflikt um die institutionelle Ordnung in der Branche verstehen lässt. Was sich hier gegenübersteht, sind nicht die Welt des kreativen Schaffens und die Welt des Geldes, sondern zwei unterschiedliche Arten, Geschäfte zu machen, zwei fundamental entgegengesetzte Vorstellungen von Medienwirtschaft.

Um dies zu verstehen, gilt es das Geschäftsmodell der YouTuber eingehender zu betrachten. Neu daran ist, wie jeder weiß, vor allem die Produktionsweise. An die Stelle der hoch arbeitsteiligen und technologisch aufwändigen Produktion in den traditionellen Medienhäusern, tritt das mehr oder weniger ehrgeizige Schaffen von Amateuren, die mit geringen technischen Mitteln, DIY-Ästhetik und neuen Erzählstrategien vorbei an den großen Intermediären ein Millionenpublikum adressieren können. Dabei entstand nicht nur eine Reihe neuer Formate – von den mittlerweile klassischen Vlogs und Let’s Plays bis hin zu Spezialformaten wie Pranks, Follow-me-arounds oder Hauls –, sondern auch eine neue Qualität der Publikumsansprache, die in viel stärkerem Ausmaß als klassische Medien auf den Austausch mit den Nutzerinnen und Nutzern setzt.

Neu sind aber auch die Formen der Monetarisierung der Channels. Dabei müssen zwei Formen unterschieden werden: Channel-Betreiber können sich zum einen für das sog. YouTube-Partnerprogramm bewerben. Auf den Channels der Partner wird bei entsprechender Nachfrage durch Werbekunden und einer passenden Zielgruppe Werbung ausgespielt – in der Regel als kurzer Instream-Clip. Die YouTuberinnen und YouTuber werden im Gegenzug an den Einnahmen beteiligt, wobei etwa 45% an YouTube, d.h. an die Konzernmutter Google gehen. Die Hürden zur Teilnahme am Partnerprogramm sind relativ niedrig: Nach derzeit gültigem Reglement qualifizieren sich alle Channels, die 1.000 Abonnenten und in den letzten zwölf Monaten eine Gesamtwiedergabezeit von 4.000 Stunden erreicht haben. Damit reich zu werden, ist hingegen deutlich schwieriger. Branchengerüchten zufolge verdienen YouTuber im Schnitt gerade einmal einen Euro mit 1.000 Aufrufen – unter großen saisonalen Schwankungen. Ein existenzsicherndes Einkommen generieren daher wohl auch nur die Top Influencer. Die Erlöse lassen sich aber zum anderen mit Produktplatzierungen und Sponsoring deutlich erhöhen. Diese Verträge liegen im Unterschied zum Partnerprogramm in der alleinigen Verantwortung der Channel-Betreiber und werden direkt mit den werbetreibenden Unternehmen abgeschlossen. Belastbare Zahlen zu den Preisen und Einnahmen gibt es nicht.

Charakteristisch für das Geschäftsmodell der YouTuber ist, dass es sehr niederschwellig ist, Ressourcen und Kompetenzen in nur geringem Ausmaß erforderlich sind, die Monetarisierung über das YouTube-Partnerprogramm und individuelle Werbeverträge mit Markenartikelherstellern erfolgt und damit klassische Intermediäre wie Vermarkter, Agenturen und Vertriebsorganisationen im Wesentlichen umgangen werden. Aktuellen Studien und Medienberichten zufolge entstand auf diese Weise ein Millionen-Business – und für die traditionellen Medienunternehmen eine ernstzunehmende Konkurrenz. Wie schon angedeutet, geht es bei diesem Wettbewerb aber nicht nur um Marktanteile, sondern auch um die grundlegendere Frage, welche Geschäfts- und Erlösmodelle in Zukunft die Medienwirtschaft dominieren werden. Der australische Kommunikationswissenschaftler Stuart Cunningham und seine Kollegen haben jüngst in einem Aufsatz in der Zeitschrift »Convergence« diesen Wettbewerb als Konflikt zwischen Süd- und Nordkalifornien bezeichnet: Die traditionelle und vergleichsweise behäbige Produktionslogik, welche sie in Hollywood paradigmatisch realisiert sehen, wird durch die Volatilität des Silicon Valley (»fail fast, learn, pivot«) herausgefordert. YouTube und Google etablierten ein Geschäftsmodell, das an den Grundfesten der traditionellen Medienindustrie rüttelte, diese versucht, die alte institutionelle Ordnung zu verteidigen. Diese Anstrengungen lassen sich auf mehreren Ebenen beobachten.

Am augenfälligsten sind zuerst einmal die Bemühungen der Industrie, die rechtlichen Rahmenbedingungen zugunsten des klassischen Geschäftsmodells zu verändern, wovon die aktuelle, vom Europäischen Parlament vorerst an den Rechtsausschuss zurückverwiesene EU-Richtlinie zur Reform des Urheberrechts zeugt. Darin soll, geht es nach den Wünschen vieler Medienunternehmen und Kulturschaffender, das Recht der Verlage auf Vergütung für die Verwendung von Überschriften und Snippets in Suchabfragen und Newsfeeds festgeschrieben werden – das sog. Leistungsschutzrecht. Zudem sollen Social-Media-Plattformen zum Einsatz von Upload-Filtern verpflichtet werden, mit denen die nicht rechtmäßige Verwendung von urheberrechtlich geschütztem Content verhindert werden kann. Letzteres zielt deutlich auf die Konkurrenz der Influencer ab, die nicht selten bestehendes und geschütztes Material für ihre Parodien und Mash-ups heranziehen.

Interessanterweise kam gerade YouTube mit der Entwicklung der sog. ContentID den traditionellen Medienunternehmen schon sehr früh entgegen. Bereits 2007 wurde eine Datenbank eingerichtet, die Fingerprints von urheberrechtlich geschütztem Content mit den Millionen von hochgeladenen Videos auf YouTube abglich, um so Verletzungen des Urheberrechts zu identifizieren. Den Rechtebesitzern wird die Möglichkeit eingeräumt, hochgeladenen Content beseitigen zu lassen – oder diesen auf den Channels zu belassen und dafür von den Werbeeinnahmen zu profitieren. Mit dieser klugen technischen Maßnahme entging Google nicht nur den Klagen der Rechteinhaber, sondern präsentierte auch ein Geschäftsmodell, das die Interessen der Medienkonzerne mit den Interessen von Google versöhnte.

Die klassischen Medien, allen voran die Filmstudios und Fernsehsender, nutzen zudem die Videoplattformen selbst, um Teile des von ihnen produzierten Contents zu vermarkten. Die Unternehmen betreiben eigene Channels und partizipieren über das Partnerprogramm an den Werbeeinnahmen. Die Channels dienen zudem als Werbeinstrumente, die das Interesse an den Produktionen und Sendern wecken sollen, wenngleich sich nicht alle klassischen Medieninhalte einfach auf YouTube transferieren lassen und unklar bleibt, wie weit die Verwertung auf YouTube das Angebot in den klassischen Kanälen kannibalisiert.

Schließlich versuchen die etablierten Medienkonzerne aber auch, direkt Einfluss auf die neue Konkurrenz aus den Sozialen Medien zu nehmen, indem sie sich der großen Multi-Channel-Networks bemächtigen oder selbst Subunternehmen gründen, mit denen sie Influencer unter Vertrag nehmen können. Ein großer Teil dieser Netzwerke – wenn auch nicht alle – befindet sich in der Hand großer Medienkonzerne wie z.B. BroadbandTV Corp (Bertelsmann), Machinima.com (Time Warner), Maker Studios (Disney) oder Studio71 (ProSiebenSat.1). Insofern stehen sie, um die Metapher von Cunningham et al. aufzugreifen, genau an der Schnittstelle zwischen Süd- und Nordkalifornien, zwischen einer traditionellen und einer neuen Produktionslogik der Medienindustrie, die sie zu versöhnen trachten. Inwieweit ihnen dies gelingt, wird die Zukunft weisen. Wie sehr auch die neuen Influencer auf die Praktiken der alten Industrie vertrauen, zeigt aber die Tatsache, dass alle vier eingangs erwähnten YouTuberinnen und YouTuber, die sich im Streit von Mediakraft trennten, schließlich wieder die Unterstützung eines Multi-Channel-Networks suchten: LeFloid bei Studio71, Unge bei Maker Studios, ApeCrime bei TubeOne Netwoks und Daaruum bei ANDigital. Und was wurde aus PewDiePie nach seinem Rausschmiss bei Maker Studios? Er schafft es offensichtlich, auch ohne die Hilfe eines MCNs den Spitzenplatz unter den meistabonnierten YouTube-Channels zu verteidigen.