Nichts dahinter
[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 13, Herbst 2018, S.154-177]
Wer im Alltag ›Oberflächlichkeit‹ diagnostiziert, spricht in der Regel im Tonfall der Kulturkritik, möchte auf Flachheit, Gehalt-, Geist- oder Inhaltslosigkeit hinweisen. Wenn das Prinzip der Oberfläche irgendwo Wertschätzung erfährt, dann im Pop – auf diese Formel können sich viele Vertreter*innen aus Poptheorie und -kritik einigen. Ausschlaggebend für diese Intuition ist der Popdiskurs der 1980er Jahre, der im Motiv der Oberfläche eine Koalition von Pop und der theoriegesättigten Postmoderne-Debatte knüpfte.
Was aber geschieht mit dem Prinzip der Oberfläche, wenn es von postmodernen Prinzipien entkoppelt wird? Für die Gegenwart nach der Postmoderne ist im Pop erstens eine neue Ernsthaftigkeit zu verzeichnen, die sich in einem Unbehagen an Oberfläche und Glätte manifestiert; zweitens eine konstante Oberflächenfaszination, die sich anderer Logiken, Ästhetiken und Artikulationsformen bedient als noch in den 1980er Jahren. Statt von einem bloßen Untergang des postmodernen Oberflächenlobs auszugehen, soll der Blick in diesem Beitrag auf die aktuellen Rekonfigurationen von Pop-Oberflächen gerichtet werden. Denn Pop bleibt Ort der Oberflächenverhandlung und ist daher zum einen geeignet, neuen und alten Diskursen der Oberflächenkritik und -affirmation nachzuspüren, und zum anderen zu fragen, ob sich hier eine Erneuerung, ja ein ›Strukturwandel‹ der Oberfläche vollzieht.
In der wissenschaftlichen Debatte kommt der Oberfläche seit einigen Jahren wieder verstärkte Aufmerksamkeit zu. Im Zuge des ›material turn‹ in den Kultur- und Medienwissenschaften beziehen neuere Arbeiten ihre Impulse zunehmend aus den praktischen Gestaltungen von Oberflächen, z.B. in Physik und (digitaler) Medientechnik, in (Mode-)Design und Architektur, aber auch in Geografie und militärischer Forschung (vgl. Lechtermann/Rieger 2015). Ganz in diesem Sinne widmet sich etwa das Forschungsnetzwerk »surface studies« Oberflächenphänomenen wie der Haut, Bildschirmen, Linien und Landschaften ausgehend von ihren materiellen Herstellungsweisen (surfacestudies.org; vgl. etwa Connor 2004; Ingold 2007; Coleman 2015). Für die Ästhetik und Poetik der Oberfläche, die sich etwa im Feld der Popliteratur (Grabienski et al. 2011) mit der ästhetischen Verarbeitung der Oberfläche – und ihrer semantischen Abwertung gegenüber ihrem Pendant der ›Tiefe‹ – beschäftigt, sind hauptsächlich die Literaturwissenschaften zuständig.Im Rahmen dieses Beitrags soll eine Perspektive auf Pop-Oberflächen entwickelt werden, die ihre Materialität und Ästhetik zusammendenkt, indem sie das Interesse auf die Metaphorisierungsprozesse lenkt, welche die sinnlich-materiellen Arrangements von Oberflächen modellieren. Ausgehend vom theoretischen Status der Oberfläche in der Postmoderne-Debatte und dem Schlüsselbegriff der Intensität wird gezeigt, wie sich im historischen Oberflächenlob in Popmusik und -kritik der 1980er Jahre unterschiedliche Oberflächentypen herauskristallisieren. In diesem Aufsatz werden drei Typen aus dem Bereich der Popmusik herausgearbeitet: Die ›Glam-Oberfläche‹, die ›militärische Oberfläche‹ und die ›Zitatoberfläche‹. Popbands eignen sich als Gegenstand der Untersuchung von Pop-Oberflächen besonders, weil sie mit ihrem Stilverbund aus Musik, Mode, Performance, Video- und Plattencovergestaltung u.v.m. ein ganzes Repertoire heterogener Oberflächen hervorbringen, die in ihrem Zusammenspiel wirksam werden. Was die drei Typen verbindet, ist eine Authentizitätskritik, die sich über die sinnlichen Qualitäten der Oberflächen artikuliert: Kälte, Glätte, Härte. In dieser Weise findet hier eine Aufladung der Oberfläche mit taktilen und thermischen Attributen statt, die das Primat des Visuellen in Frage stellt, welches das postmoderne Konzept der Oberfläche geprägt hatte.
Bei einem Blick auf Pop-Oberflächen der Gegenwart wird deutlich, dass die Logik der politisch-ästhetischen Provokationen der 1980er, die auf einem Kult der Distanz aufbauen, nicht mehr greift. Zwar schreiben sich die Pfade einer ›Glam-Oberfläche‹, einer ›militärischen Oberfläche‹ und einer ›Zitatoberfläche‹ bis in die Gegenwart fort, aber die enge Artikulation von Oberflächen mit Kälte und Glätte wird aufgebrochen. Was bedeutet es für aktuelle Pop-Oberflächen, wenn sie jenseits der bewährten Strategien von Coolness und Distanz auskommen? Anhand des Intensitätsbegriffs wird diskutiert, was aus den postmodernen Oberflächentypen geworden ist – und inwiefern uns die Oberflächen der Gegenwart anregen können, unser theoretisches Vokabular der Oberfläche zu überdenken.
Postmoderne Oberflächen zwischen Affirmation und Kritik
In der Frage, was die Postmoderne ausmacht, sind sich kritische und enthusiastische Positionen in einem Punkt einig: Die Postmoderne ist flach. Zu den Klassikern dieser Diagnose gehört der Essay »Postmodernism, or, The Cultural Logic of Late Capitalism« (1984) des neomarxistischen Literaturtheoretikers Fredric Jameson, dessen Kernthese lautet, dass Tiefe in der Postmoderne durch die Oberfläche bzw. eine Vielzahl von Oberflächen ersetzt wird. An Beispielen aus der Literatur, der bildenden Kunst und der Architektur zeigt Jameson, wie diese neue Oberflächlichkeit sich auch zur formal prägnantesten postmodernen Signatur entwickelt. Dass es sich keineswegs nur um eine Metapher handelt, macht er deutlich, wenn er eine »new kind of superficiality in the most literal sense« konstatiert (Jameson 1984: 9).
Ein Beispiel für diese buchstäbliche Oberflächlichkeit findet Jameson in der Pop-Art Andy Warhols. Mit Coca-Cola-Flaschen, Campbell-Suppendosen und Starporträts wählt Warhol nicht nur Motive, die dem Herzen der Warenwelt und der »glossy« (ebd.) Werbebilder entlehnt sind; sie steigern in ihrem gleichmäßig flächigen Farbauftrag auch die Anmutung zweidimensionaler Tiefenlosigkeit. Am Bild »Diamond Dust Shoes« zeigt sich die Wirkung der konkreten Oberflächengestaltung besonders eindringlich: »[…] the glitter of gold dust, the spangling of guilt sand that seals the surface of the painting and yet continues to glint at us« (ebd.: 10). Während die Werke der klassischen Moderne durch ihre Motivwahl, aber auch durch Pinselduktus, durch Farbrisse etc. noch von den Erfahrungen der Angst und Entfremdung kündeten, sieht Jameson im dekorativ-frivolen Glitzern der Diamantschuhe nur eine grundlose, ins Schrille gesteigerte Heiterkeit, die auf nichts als sich selbst verweist. Ihres Ausdrucksgehalts beraubt, mutieren diese selbstbezüglichen Oberflächen zu »simulakra« (ebd.: 25) und lassen den Betrachter in einer eigentümlichen Affekt- und Erfahrungslosigkeit zurück (ebd.: 10).
Als negatives Gegenstück zum Erfahrungsbegriff bringt Jameson mit Bezug auf Jean-François Lyotard den Begriff der ›Intensitäten‹ ins Spiel, deren Grundton in jener erfahrungslosen Euphorie besteht (ebd.: 16). Diese hat den für Jameson fatalen Effekt, dass der historische Bezug einer kollektiven Vergangenheit und die Imagination einer Zukunft fragmentiert und von einer Serie reiner und unverbundener Gegenwarten (ebd.: 27) abgelöst werden, die in eine Krise der Historizität münden: Geschichte ist angesichts dieser postmodernen Referenzlosigkeit nur noch als Kostüm verschiedener Versatzstücke, als Staffage, als Nostalgie denkbar. Im Gebrauch aller Stile scheinen allenfalls noch stereotype Bilder über die Vergangenheit auf, die in dieser Weise zur »pop history« (ebd.: 25) wird.
Die Stärke von Jamesons Konzeption liegt darin, die Oberfläche gleichermaßen als Metapher und Materialität zu fassen, wodurch ihm eine prägnante Zeitdiagnose gelingt, die auch die konkreten Beschaffenheiten der Oberflächen in Kunst und Architektur berücksichtigt. Gleichwohl erweist sich die importierte Metaphorizität des Oberflächenbegriffs als problematisch, weil Jameson die klassische Oberflächenskepsis mit der ideologiekritischen Anlage seiner Argumentation weiter verschärft. Mit seinem Fokus auf den Erfahrungsgehalt von Kunstwerken bleibt er so einem Repräsentationsmodell verhaftet, das bei seiner Suche nach dem ›Dahinter‹ letztlich die Materialität der untersuchten Oberflächen nur als sekundäres Symptom einer verborgenen Tiefenstruktur begreifen kann. Die Annahme einer Affektlosigkeit macht so auch die konkreten Wirkungen unsichtbar, die jenseits der regressiven Kehrseite der Erfahrung – euphorischer Intensitäten – durch Oberflächen hervorgerufen werden und diese umgekehrt evozieren. Jameson scheint eine affizierende Kraft zu ahnen, wenn er von den Warholʼschen Diamantschuhen schreibt, dass sie den Betrachter anfunkeln. Dadurch aber, dass er diese Kraft als Mangel, nämlich als Symptom eines umfassenden spätkapitalistischen Erfahrungsverlusts interpretiert, muss ihre spezifische Wirkweise rätselhaft bleiben. Wie wäre angesichts eines solchen Affektmangels die ungeheure Popularität von Warhols Kunst über die bildende Kunst hinaus, ihre Imitation und Weiterentwicklung zu erklären?
Jamesons Gegenspieler Lyotard formuliert mit der »Libidinösen Ökonomie« bereits 1974 eine Kritik des psychoanalytischen Tiefenmodells der Repräsentation, dem Jameson zehn Jahre später mit seinem Postmoderne-Essay verpflichtet bleiben soll. Statt Kunstwerke ausgehend von der Annahme eines ›Mangels‹ auf ihr verborgenes Unbewusstes hin abzusuchen, entwirft Lyotard einen positiven Begriff des Begehrens, der die Kunstproduktion als immanenten Raum der »Arbeit« von Intensitäten und Ereignissen denkt (Lyotard 1989: 160f.). Die fortwährende Transformation libidinöser Energien, d.h. die Weise, wie diese blockiert, freigesetzt, erschöpft, aufgestaut werden und sich so in extreme Intensitäten verwandeln, ist für Lyotard der Schlüssel zum Verständnis von Kunstwerken und Musik (ebd.). Während Jameson sein Oberflächenverständnis am Visuellen entwickelt und die Analysen auf den Sehsinn beschränkt bleiben, wird im Rahmen einer solchen Ökonomie der libidinösen Oberfläche die Produktion von Intensitäten und Affekten durch den ganzen Sinnesapparat wichtig. Lyotard erweitert seine Kunstanalysen daher insbesondere um die Dimension des Taktilen – der Haut – und des Akustischen, d.h. der Musik und der Sounds (ebd.: 164). Der Körper des Kunstwerks verlängert sich in dieser Logik im Körper des Künstlers; künstlerisch sind nicht Werke, sondern diskontinuierliche Ereignisse und Initiativen (ebd.: 165). Ihr Medium findet die Transmission von Intensitäten in einer heterogenen Oberfläche ohne Wände und Grenzen, die alle Bestandteile des Prozesses – Farben, Sounds, Sätze, Haut, Instrumente – einschließt. Mit dem psychoanalytischen Musiktheoretiker Anton Ehrenzweig kommt Lyotard zum Schluss: Alle Kunst ist flach; Kunstgeschichte ist ein historisches Spiel der Oberflächen (ebd.: 167).
Im Rahmen einer Ästhetik der Affirmation vollzieht sich eine Umwertung der Oberfläche von einer defizitären hin zu einer für den Theoriekanon hoffnungsvollen Figur, für die neben Lyotards Werk insbesondere auch die Arbeiten Gilles Deleuzes (1993; Deleuze/Guattari 1997) und Jean Baudrillards (1995) stehen. Weil die Oberfläche in dieser theoretischen Linie nichts mehr repräsentiert, wird es möglich, sie in ihrer eigenen Materialität ernst zu nehmen. Zum einen erlaubt es die immanente Perspektive Lyotards, die affektive Dimension von Pop in ihrer Produktivität zu fassen, zum anderen erweist sich für den Gegenstand von Pop-Oberflächen gerade die sinnestheoretische Erweiterung als analytischer Schlüssel, um die Herstellung visueller, taktiler und akustischer Oberflächen in ihrem Zusammenspiel denken zu können.
Der positive, ja euphorische Intensitätsbegriff bei Lyotard veranlasst Jameson dazu, ihn auf der gegnerischen Seite seines emphatischen Erfahrungs- und Affektbegriffs zu verorten, mit dem er die Bedingung von Kritik zu retten versucht. Trotz dieser unterschiedlichen normativen Rahmungen gehen Lyotard und Jameson beide von einem exzessiven Intensitätsbegriff aus, der auf Affektsteigerung zielt. Dabei verwirft Lyotard die Kategorie der Kritik nicht einfach, sondern erklärt sie umgekehrt zu einer negativen Intensität, die als »kalte« Leidenschaft das Resultat der Abkühlung von Intensitäten ist (Lyotard 1993: 15). Da die mit der Kritik verbundene Geste der Distanz und Überlegenheit aber in den Bereich der Repräsentation führt, unterbricht sie den immanenten Fluss libidinöser Intensitäten, die für Lyotard ›heiß‹ und ›messy‹ sind. Daher fordert er unbedingte Nähe: »be inside and forget it« (ebd.: 3). Den »Terror« des Wahren kann die Theorie nur durchbrechen, indem sie qua »Apathie« (1979) und »Lockerungskraft« ihren Meister-Status gegenüber anderen Gattungen wie Musik oder Kunst aufgibt, so das Urteil des ›Meisters‹ postmoderner Theorie. Diese Verabschiedung eines Außen, der Tiefe und der kritischen Distanz – und damit einhergehender Unterscheidungen von Wesen/Schein, latent/manifest, authentisch/unauthentisch – ist für Jameson nur ein weiteres Symptom einer um sich greifenden postmodernen Kultur der Oberfläche, die neben Kunst und Literatur auch die Theorie in Beschlag nimmt (Jameson 1984: 12; vgl. zu einer aktuellen Kritik am ›affirmative turn‹ Noys 2017).
Auch wenn in methodischer Hinsicht in den nachfolgenden Analysen ein immanentes Oberflächenmodell zugrunde gelegt wird, erledigt sich damit die Frage der Kritik und Distanz keineswegs. Auf der Gegenstandsebene verbinden sich mit dem Motiv der Oberfläche im Pop eigenständige und wirkmächtige Kritikformen, die sich zwischen Distanzgesten, Diskursverweigerung und Überaffirmation bewegen. Wie sich zeigen wird, entfalten die Pop-Oberflächen gerade im Hinblick auf ihre Kritikfiguren eine Metaphorizität, die sich systematisch mit ihrer Materialität verschränkt. In der Ausgestaltung und Performanz der Pop-Oberflächen kommen vielfältige Übersetzungsprozesse zwischen diesen beiden Dimensionen zum Tragen: So wirken die materiellen Oberflächen selbst metaphorisch, indem sie auf bestimmte Haltungen, Kritiken und Selbstverortungen verweisen; umgekehrt materialisiert sich die mitunter intellektualisierte Feier der Oberfläche in bestimmten Materialien, Sounds, Posen. Kritik und Distanz wirken in diesem Arrangement nicht nur als ›kalte Intensitäten‹ – sie erschöpfen sich nicht in ihrem Verweischarakter –, sondern setzen eine eigene Faszinations- und Affizierungskraft frei, die sich von klar bestimmbaren ›inhaltlichen‹ Positionierungen zunehmend verselbstständigt. Weil der Begriff der ›Intensität‹ in der Lage ist, diese Konstellationen von Metapher und Materialität in ihren sprachlichen und nichtsprachlichen Modulierungen – nicht nur der Steigerung, sondern auch der Reduktion – zu erfassen, wird er die Diskussion anleiten.
Poptheorie als coole Oberfläche
Während Jamesons Analysen auf die Hochkultur beschränkt bleiben, scheint kein Zweifel daran zu bestehen, dass das Prinzip der Oberfläche erst in der Popkultur zu sich selbst kommt. In diesem Urteil sind sich linke und konservative Kulturkritiker einig, deren Geringschätzung der Pop- und Massenkultur sich gerade an deren ›Oberflächlichkeit‹ – verstanden als Synonym für Standardisierung, Trivialität und schnelle Reize – festmacht (vgl. Hecken 2010).
Von dieser Negativkonnotation wendet sich Thomas Hecken ab, indem er das Merkmal der Oberflächlichkeit im Rahmen seiner Pop-Definition (neben Funktionalismus, Konsumismus, Äußerlichkeit etc.) vorwiegend auf nicht metaphorische Weise ansetzt. Oberflächlichkeit meint hier schlicht ein Prinzip, das sich – etwa in Gestalt dekorativer Verpackungen wie der Schallplattenhülle – gegen moderne Funktionalitätsanforderungen richtet (Hecken 2013: 8). Mit ihr ist aber auch eine Rezeptionshaltung verknüpft: »Aus der körperlichen Tiefe kommt eher wenig, und in die metaphorische Tiefe – zu den Gründen des Menschlichen, Sozialen oder ihrer Auflösung – will der Pop-Fan auch kaum« (ebd.).
Auch wenn Hecken die Oberfläche so aus der Klammer der Kulturkritik löst, schließt er sich damit nicht der Politisierung der Oberfläche an, die etwa in den semiologischen Lesarten der Cultural Studies leitend wird, wenn Pop-Oberflächen auf ihre potentiell widerständigen Umcodierungen und Aneignungen hin abgeklopft werden. Die Aneignungsthese macht Hecken allerdings in Bezug auf die Frage der Vergeschlechtlichung von Pop geltend, wenn er zeigt, dass in kulturkritischen Diskursen der Vorwurf der ›Oberflächlichkeit‹ die Popkultur mit dem gleichen Begründungsmuster abwertet wie nicht traditionelle Weiblichkeitsentwürfe (vgl. dazu auch Huyssen 1986): »Sobald sie [Mädchen und junge Frauen, E.B.] nicht mehr auf ihre andere Rolle als gefühlsinnige, häusliche Person und werdende Mutter festgelegt werden, gelten sie gerne als leichtsinnig und amüsierwillig. Fallen die alten reaktionären Fesseln, stehen Mädchen unmittelbar als Verkörperungen des populären Prinzips da: Sie werden für verführerisch gehalten, andererseits aber hält man sie auch für leicht verführbar; sie sind eben oberflächlich. Oberflächlich wie die Popkultur selbst!« (Hecken 2006: 142).
Die Vergeschlechtlichung der Oberfläche schwingt auf andere Weise mit, wenn zur Hochzeit der Postmoderne-Debatte in den 1980er Jahren unterschiedliche Subkulturen eine regelrechte Feier der Oberfläche betreiben. In Deutschland korrespondiert diese Aufwertung der Oberfläche mit einer Verschmelzung von Pop und Theorie im Label ›Poptheorie‹. In der Hochphase der deutschen Theoriebegeisterung entstehen Zeitschriften wie »Sounds« und »Spex« – und mit ihnen eine Pop-Linke, die sich in ihrem Zugang zur Popkultur durch poststrukturalistische Theoriefiguren inspirieren lässt und gleichzeitig linken Emanzipationshoffnungen der Kritischen Theorie verpflichtet bleibt. Daraus entsteht ein Genre der Popkritik, deren verästelter, eklektischer Gestus einerseits rätselhaft, andererseits vorpreschend und vorlaut in seinen starken subjektiven Urteilen ist. Im Modus der Überaffirmation wird hier eine Popästhetik propagiert, die gezielt auf die ›reine Oberfläche‹ setzt und alles Authentische strategisch zurückweist. Diese Pop-Haltung schließt eine politische Positionierung ein, sie nimmt aber dezidiert Abstand zu jeder ›falschen Unmittelbarkeit‹ und damit zu den alten Gegenkulturen der linken Boheme.
Ihre Brisanz entfaltete diese Feier der Oberfläche durch einen betont coolen Distanzierungsgestus, der den Aufstand gegen Tiefenpathos in Rock-, Alternativ- und Hippiekultur indiziert. Wie Nadja Geer (2012) argumentiert, setzt sich in der ästhetischen Strategie der »Sophistication« innerhalb der authentizitätskritischen Pop-Linken ein abgeklärter, männlich geprägter Durchblickergestus durch. In Teilen scheint die Rettung der effeminierten Oberfläche durch ihre Vermännlichung im Rahmen eines Kults von Coolness und Distanz erkauft zu sein, die nicht nur Popkritik, sondern auch die Popmusik der 1980er Jahre stark prägt.
Im Klima der Authentizitätskritik kristallisieren sich hier unterschiedliche Oberflächentypen heraus, von denen drei besonders prägnante Spielarten im Folgenden skizziert werden. Die Auswahl ist weder erschöpfend noch sind die Typen trennscharf voneinander abzugrenzen – vielmehr ergeben sich zahlreiche Überlappungen, wechselseitige Verweise und Mischformen.
Die Glam-Oberfläche
Bands und Musiker wie Roxy Music, David Bowie oder T-Rex verkörpern erstens einen Glam-Typus, der sich in seiner Feier der Künstlichkeit gegen die Ernsthaftigkeit und das Virtuositätsgebaren der klassischen wie alternativen Rockmusik richtet. In seiner Lust an Übertreibung, Spektakel und Theatralität kommt es zu einer Oberflächeninszenierung, die dem von Susan Sontag beschriebenen »Camp«-Zugang entspricht: »Camp ist keine natürliche Weise des Erlebens. Zum Wesen des Camp gehört vielmehr die Liebe zum Unnatürlichen: zum Trick und zur Übertreibung. Und Camp ist esoterisch – eine Art Geheimcode, ein Erkennungszeichen kleiner urbaner Gruppen« (Sontag 2012: 322).
Trotz dieser Geheimcodestruktur ist für Sontag die »Erlebnisweise des Camp unengagiert, entpolitisiert – oder zumindest unpolitisch« (ebd.: 324). Schließlich handele es sich bei Camp-Kunst um »dekorative Kunst, die die Struktur, die von den Sinnen wahrgenommene Oberfläche, den Stil auf Kosten des Inhalts betont« (ebd.: 325). Diese Gleichzeitigkeit von subkultureller Geheimcodestruktur und politisch indifferenter Oberflächenzentrierung charakterisiert auch den Glam-Typus. Seine Protagonisten David Bowie und Marc Bolan grenzen sich nach ihrer frühen subkulturellen Sozialisation in der britischen Alternativkultur scharf von der Hippie-Boheme ab, indem sie die übliche Kritik an ›Kommerz‹ und ›Ausverkauf‹ auf den Kopf stellen. Der Erfolg in Showbiz, Mainstream und Charts wird vorbehaltlos angestrebt und demonstrativ ausgestellt (vgl. Turner 2013). Dass der massenwirksame Erfolg gelingt, ist aber gerade der Kenntnis und dem raffinierten Einsatz subkultureller Codes aus der queeren Avantgarde- und Theaterszene – etwa Drag und Make-up – zu verdanken. Die verführerischen Oberflächen aus synthetischen Materialien, die Perücken, Plateauschuhe und Outfits aus Schichten von Make-up, Glitzer, Lack und Satin bedürfen keines Begründungsaufwands, sondern sprechen für sich (vgl. Thrift 2008). Ihre sinnliche Materialität entfaltet eine Verführungskraft, setzt aber auch symbolische Wirkungen frei: Spiegel und Plastik als anorganische, in der Regel glatte und kalte Materialtypen werden zu Medien der Kultivierung von Artifizialität, wie sich an Roxy Musics Schaufensterpuppe oder Bowies Charakterisierung seiner Musik als »plastic soul« eindringlich zeigt. Bei Roxy Music wie Bowie wird dieses Programm in einen zitatlastigen Retro-Hybrid-Sound mit Rock ’n’ Roll- und Free-Jazz-Elementen, exotischen, funkigen und discoiden Rhythmen übersetzt, der sich zwischen Überladenheit und Reduktion bewegt.
Wie Judith Peraino (2012) zeigt, treffen sich Andy Warhol und David Bowie in der Herstellung kühler und glatter Oberflächen, wobei sich Bild- und Soundoberflächen ergänzen und verschalten. Die als »swish« gefasste »Kunst der Pose« rückt den Glam in die Nähe des Dandys und seines Kults der Distanz und Kälte, der auch die visuelle und klangliche Ästhetik von Roxy Music prägt. An dieser coolen Oberfläche prallen auch Politisierungsversuche ab, die etwa Bowie als Vorkämpfer der Homosexualität ins Bild setzen: »I never, ever said the word gay when I first got over here to America. […] Nobody understood the European way of dressing and adopting the asexual, androgynous everyman pose«, lässt Bowie verkünden (zit. n. Peraino 2012: 167f.).
Die militärische Oberfläche
Expliziter als im Glam wird die Gegenpositionierung zur Hippieästhetik in einem zweiten Modell: dem militärischen Oberflächentyp. Bands wie DAF oder Kraftwerk teilen mit dem Glam die Vorliebe für kühle und harte Oberflächen. Während sie sich im Glam aber in ein Arrangement der überladenen, bisweilen barocken Künstlichkeit einfügen, sind sie im militärischen Oberflächentypus dem Prinzip der flächigen Reduktion im Rahmen einer Ästhetik der Serialität und der Maschine verpflichtet.
Bei DAF wird der Sound heruntergebrochen auf einen Synthesizer mit einfachster Struktur, begleitet durch ein hyperpräzises Schlagzeug und monotonen, bisweilen keuchenden Sprechgesang. Fetisch-Materialien wie Lack und Leder führen eine verwirrend neuartige Ästhetik von Schneid und angedeuteter Gewaltbereitschaft in die Punk- und NDW-Landschaft ein, statt Plastik werden Eisen und Beton zu metaphorischen Feldern und bevorzugten – auch hier wieder glatten und kühlen – Materialien. Der Marschappeal der Musik, auch textlich transportiert in »Tanz den Mussolini«, wird komplettiert durch die Uniform als Signum einer militärischen Lässigkeit, die ihrerseits einen ästhetischen Vorläufer der Coolness darstellt (vgl. dazu Mentges 2000). Schon im Glam wird die Uniform zu einem wiederholt aufgegriffenen Topos, etwa wenn Bryan Ferry im Video zu »Love Is The Drug« in Pilotenuniform und mit Augenklappe vor tanzenden Stewardessen auftritt. Während aber die Uniform Ferry als charismatische Zentralfigur der Band markiert und nur ein Stilelement im eklektischen Gesamtarrangement bildet, lässt die Uniform bei Kraftwerk das einzelne Bandmitglied verschwinden.
Der Umstand, dass es keine klassische Instrumentenverteilung gibt, inszeniert die Einzelnen als ersetzbare Teile einer Gesamtmaschine, die antiindividuelle Muster und Liniensysteme produziert. In seinem Essay zum »Ornament der Masse« (2014) beschreibt Siegfried Kracauer die Choreografien der Tiller Girls als solche, in denen »keine einzelnen Mädchen mehr« vorkommen, »sondern unauflösliche Mädchenkomplexe, deren Bewegungen mathematische Demonstrationen sind« (Kracauer 2014: 50). Dieses Ausloten von Flächen durch Linien geht in seiner dekorativen Wirkung auf ein Publikum auf und wird so zur ›reinen Oberfläche‹ ohne Inhalt (ebd.: 52). Bei Kraftwerk finden wir ebenfalls ein elektronisches Soundornament von Synthesizerspuren, Rhythmen und Beats, deren Geometrie in der uniformierten Performance verdoppelt wird. Statt der verschwitzt-virilen Körperlichkeit von DAF wird im Auftritt von Kraftwerk die kühl-gemäßigte Distanz der Maschine zum Prinzip erhoben, die wie bei Bowie einem dandyistischen Modell folgt (vgl. Holert 2005). Gemeinsam ist ihnen die Temperierung der Oberflächen als coole, kühle, kalte; taktiles Äquivalent ist das Harte, Glatte.
Die Zitat-Oberfläche
Ein dritter Typus teilt die Liebe zur Künstlichkeit mit dem Glam-Entwurf und mit dem militärischen Modell seinen politisch-ästhetischen Abgrenzungsimpuls gegen die Hippies und Rock- und Avantgarde-Transgression. Er wird verkörpert durch die deutsche Band Freiwillige Selbstkontrolle (F.S.K.), die im Statement und dem gleichnamigen Song »Ja zur modernen Welt« die »denkbar größte Möglichkeit politischer Dissidenz« gegen die »herrschende Innerlichkeit der sozialdemokratisch verdorbenen 70er« sieht, wie Thomas Meinecke (1998: 9f.), der Sänger der Band, formuliert. Dem Lob der modernen Welt wird Ausdruck verliehen im Tragen von Uniformen, in der Ablehnung von Bärten und der unbedingten Vermeidung des Schwitzens, weshalb man anfangs statt eines Schlagzeugers lieber einen Drumcomputer einsetzte. Dass dieses Statement sich dem historisch-politischen Referenzrahmen der 1970er Jahre verdankt und wie kurz die Halbwertszeit des Spiels mit Ironie und Zitat ist, erkennt Meinecke 1986: »Das intelligente Spiel mit Stilen, welches stets Rechenschaft vor seinem historischen Kontext abzulegen vermochte, war bald zum Volkssport degeneriert, dem der Scharfsinn der ursprünglichen Idee naturgemäß Stück für Stück geopfert werden mußte. Aus subtilster Ironie (heute Patentrezept jedes Kulturidioten) war bald mittels einer aus Frankreich […] importierten Meta- und Simulationsbegrifflichkeit jenes plumpe Als-Ob-Gebaren geworden, mit dem wir uns bis heute in fast jeder Ausstellung, fast jedem Konzert, fast jeder Lektüre herumschlagen müssen« (ebd.: 118).
Mit dem Argument der historischen Rechenschaft grenzt sich Meinecke von der sog. ›postmodernen Beliebigkeit‹ auf ähnliche Weise ab wie Fredric Jameson wenige Jahre zuvor. Der popintellektuelle Diskurs fungiert hier als Korrektiv der Theorie(-rezeption), deren Popularisierung Meinecke hier beanstandet. Mit diesem Avantgarde-Anspruch haben sich auch F.S.K. mit Begeisterung einer »pop- und sozialgeschichtlich fundierten Grundlagenforschung« (Schumacher 2007: 238) gewidmet, die sich musikalisch vom anfänglichen Art School Post Punk hin zu Techno und House bewegt, sich aber auch auf Rhythm and Blues, Folk und Country Music eingelassen hat. Wie Eckhard Schumacher ausführt, bedeuten »Flanellhemd, Folklore und Landpartie« bei F.S.K. aber nicht die Rückkehr zum Authentischen und Natürlichen, sie bedeuten nicht »den Abschied von der Kybernetik, sondern deren Fortsetzung mit anderen Mitteln: Verfremdung durch Authentizität« (ebd.). Pop ist für Meinecke nicht an bestimmte musikalische Stile oder ihre Verbreitung in Massen- und Populärkultur gebunden, sondern »Pop ist eine Betrachtungsweise der Welt, die sich auf die Oberfläche einlässt« (Meinecke 2001).
Im Gegensatz zum militärischen und zum Glamtypus wird beim Zitat-Typus die Oberfläche von spezifischen Materialien entkoppelt. Sie wird zur Spielwiese und versammelt postmoderne Prinzipien wie Zitat und Ironie, Collage, Pastiche und Dekontextualisierung bei einer gleichzeitigen Kritik am postmodernen ›anything goes‹. Gegenüber dem Prinzip der Künstlichkeit im Glam und dem Prinzip der Serialität beim militärischen Typus steht die Zitatoberfläche für Referenzlosigkeit. Was die drei Oberflächentypen verbindet, ist eine Authentizitäts- und Essenzkritik, die das gleiche Feindbild teilt: die Hippies mit ihren Transgressions- und Innerlichkeitsbestrebungen. Was das effektivste Gegenmittel ist, scheint allen Modellen trotz ihrer stilistischen Unterschiede gleichermaßen klar vor Augen zu stehen: die Uniform als Signum einer Haltung der coolen Distanz. In dieser Intervention gegen den ›weichgespülten‹ Zeitgeist erscheint die Oberfläche als ästhetische Ressource, die es mithilfe von Souveränitätsgesten virtuos zu meistern gilt, während die Autorschaft – ganz im Gegensatz zu Lyotards Vision flacher Kunst – intakt bleibt.
Oberflächen nach der Postmoderne
Was hat sich seit der postmodernen Oberflächenapologie der 1980er Jahre verändert? Viele aktuellere Zeitdiagnosen bringen ihre Intuition, dass die Postmoderne vorüber ist, mit diversen Attributen des ›Danach‹ zum Ausdruck. Titel wie »The Self after Postmodernity« (Schrag 1997), »Philosophy after Postmodernism« (Crowther 2003) oder »Religion after Postmodernism« (Talor 2008) zeigen ein gesteigertes Wandlungsbewusstsein an, das mitunter in der Gegenwartsdiagnose einer »Metamoderne« (van den Akker/Vermeulen 2015) oder einer »Post-Postmoderne« mündet. Fast dreißig Jahre nach Jamesons programmatischem Postmoderne-Essay legt Jeffrey T. Nealon eine zeitdiagnostische Aktualisierung unter dem Titel »Post-Postmodernism or, The Cultural Logic of Just-in-Time Capitalism« (2012) vor. Seine These ist, dass die Fragmentierung, die Jameson als Signum der Postmoderne bestimmt, in der post-postmodernen Gegenwart durch das Prinzip der ›Intensivierung‹ abgelöst wird. Eingebettet ist diese Feststellung einer Steigerung von Intensität – jüngst auch formuliert bei Garcia (2016) – in eine wenig überraschende Ökonomisierungsthese. Demnach durchzieht eine ökonomisch grundierte ›Selbstoptimierung‹ das Alltagsleben, in der die Intensitätssuche sich zwischen hysterischer Verpassensangst – im Internetvokabular auch ›fomo‹ (›fear of missing out‹) genannt – und neuer Innerlichkeit im Rahmen einer Authentizitäts-, Selbst- und Sinnsuche bewegt. Vielfach warnen gerade Neoliberalismus-Kritiker wie etwa Byung-Chul Han vor einem neuen, im Zeichen der Selbstoptimierung stehenden Hang zu Glätte und Perfektion. Glatte Haut (Brazilian Waxing), glatte Bildschirme (Smartphones), glatte Kunst (Jeff Koons) entsprechen für sie dem politischen Stil ›neoliberaler‹ Gleichmacherei, Anpassung und Gefälligkeit (vgl. Han 2015).
Zahlreiche Diagnosen der Popkultur fügen sich in dieses kulturkritische Klagelied ein. Jüngst hat Georg Seeßlen in seinem Buch »Is This The End?« (2018) das Verschwinden der Utopien im Pop attestiert, der in seiner Vervielfachung Baudrillardscher Simulationen keine verändernde Kraft mehr aufweise. Damit schließt Seeßlen sich der Einschätzung Mark Fishers an, der in seinem Buch »Capitalist Realism« (2009) den Retroboom im Pop (vgl. dazu auch Reynolds 2011) als Symptom kapitalistischer Alternativlosigkeit deutet. Fisher und Seeßlen sehen einen allgemeinen Bedeutungsverlust von Popmusik am Werk, die nicht mehr als kultureller Wandlungsmotor zu fungieren vermöge. Ähnlich wie Jamesons Analyse des Spätkapitalismus oder auch die klassische Kulturindustrie-These, lässt auch die Neoliberalismuskritik Popoberflächen in ihrem Symptom- und Verweischarakter ökonomisch-politischer Verhältnisse aufgehen. Im Kern wird in den Diagnosen eines politischen Bedeutungsverlusts von Pop ein neues Tiefenideal formuliert, nach dem Pop-Oberflächen nur dann Relevanz besitzen, wenn sie politisch wünschenswerte, d.h. ›widerständig‹ anmutende Effekte haben.
Bereits seit den 1990er Jahren häufen sich die Hinweise, dass sich eine gewisse Erschöpfung postmoderner Prinzipien wie Ironie und Zitat eingestellt hat, die sich zu einer regelrechten Krise der Oberfläche verdichtet. So hält der Topos des ›real thing‹ Einzug ins Vokabular der Jugendsprache: ›real‹, d.h. ›nicht fake‹ zu sein, wurde zur neuen Auszeichnung in diversen Subkulturen von Punkbands über Skater bis hin zu aufstrebenden Regisseuren. Mit der ›New Sincerity‹ formiert sich in den USA gar eine Anti-Oberflächen-Welle, die sich das Ende der Ironie auf die Fahnen schreibt. Der Begriff wurde durch einen Essay des Schriftstellers David Foster Wallace geprägt, in dem er in Reaktion auf die Dominanz einer zynischen und metafiktionalen Erzählweise den Entwurf einer neuen Aufrichtigkeit skizziert, die statt der ermüdenden Selbstimmunisierung durch Dauerironie das Risiko eingeht, sentimental und weich aufzutreten (Wallace 1993). Der daraus entstehende Entwurf der Post-Ironie beschreibt weniger das bloße Verwerfen von Ironie oder die Rückkehr zur prä-ironischen Eindeutigkeit – anders als in der konservativen Kulturkritik wird die Postmoderne nicht verdammt –, sondern den Versuch, ironische Mittel über sich selbst hinauszutreiben, indem sie zu ernsthaften Zwecken gebraucht werden (Konstantinou 2016: 12). Aus den Debatten der Literaturkritik wanderte dieses post-ironische Modell in andere Bereiche wie Musik, Kunst, Film(-kritik) und Philosophie ein.
Aktuelle literarische Vertreter der ›New Sincerity‹, etwa Marie Calloway und Tao Lin, künden – ganz im Widerspruch zu Nealons und Garcias Diagnose – davon, wie unintensiv die vormaligen Intensitätsgaranten Drogen, Sex und Nachtleben sein können. In betont nüchtern-beiläufigem Tonfall berichten sie von langweiligen Partys, auf denen man verlegen herumsteht, von ödem Sex mit dem Tinder-Date und vom stundenlangen Hin- und Herswitchen zwischen den drei gleichen Apps. Ertragen lässt sich das alles nur mit Xanax, Adderall und Ritalin, die als Drogen verwendet nicht im Zeichen von Rausch und Ekstase stehen, sondern den Alltag und soziale Interaktionen erst funktionstüchtig machen sollen. Apathie, Indifferenz und Beiläufigkeit verdichten sich zu einer ästhetischen Strategie der Entintensivierung, die sich mit der schonungslosen Schilderung der eigenen Pathologien bestens verträgt.
Mit diesem Entwurf reizarmer Ernsthaftigkeit verschwindet das auf Intensität setzende Transgressionsmodell aber keineswegs. Gerade in der Pop-Musik lässt sich seine Kontinuität vielerorts feststellen, etwa wenn die erfolgreiche österreichische Band Wanda fast einhellig dafür gefeiert wird, in Zeiten der ›Selbstoptimierung‹ »nicht perfekt konstruiert, nicht glattgebügelt« zu sein, sondern Songs zu spielen, die »von Liebe, Enttäuschung und Rausch erzählen, vom ungesunden, wilden, ehrlichen Leben« (sz.de, 13.2.2015). Befragt man sie zum Klischeegehalt dieses Konzepts, heißt es: »Das ist keine Ironie, da geht es um Leben und Tod« (zeit.de, 1.10.2015).
Nahezu ohne Transgressionsbestrebungen kommt dagegen die neue romantische Innerlichkeit unter den musikalischen Vertretern der ›New Sincerity‹ aus, die sich unter den zahlreichen Retro-, Lo-Fi- und DIY-Produktionen, etwa im Singer-Songwriter-Spektrum oder im Folk, formiert. Hier dominiert eine akustische (Sound-)Ästhetik der Wärme, die wahlweise durch freiwillige Selbstbeschränkung auf altes technisches Equipment und akustische Instrumente hergestellt und durch Mode-Entscheidungen wie Bärte und Holzfällerhemden unterstrichen wird. Wie Frank Apunkt Schneider (2015) zeigt, macht im Deutschpop die Renaissance des Gefühls vor Indiegrößen wie Tomte und Kettcar nicht Halt; und auch in Teilen der Hamburger Schule ist seit den Nuller Jahren eine ätherisch-romantische Wende zu verzeichnen.
Diese Spielformen der neuen Ernsthaftigkeit als Indizien für den Tod der Ironie, der Postmoderne oder eines ›oberflächlichen‹ Popkonzepts zu verstehen, wäre allerdings verkürzt. Die ästhetische Abkehr von der Oberfläche ist nicht ungebrochen; auch was im Lo-Fi entsteht, ist nicht ein bloß ungeschliffener Sound, vielmehr entstehen neue Polierungen, neue Oberflächen. Bedeutsamer noch ist, dass es eine konstante Oberflächenfaszination gibt, die keinesfalls der einfache Gegenpol der Neuen Ernsthaftigkeit ist, sondern sie begleitet.
Wodurch unterscheiden sich diese neuen Oberflächen von den ›alten‹ der Postmoderne? Engberg und Fjellestad (2013: 7f.) skizzieren anhand eines Vergleichs zwischen Madonna und Lady Gaga ein Konzept der Post-Postmoderne, die sie vor allem durch digitale Prinzipien strukturiert sehen. Die geschlossene Form der Moderne und die offene Antiform der Postmoderne werden vom endlos konnektiven Internet abgelöst; die postmoderne Anarchie weicht dem Netzwerk, das Syntagma der Datenbank, der Mangel macht dem Zugang Platz, der Idiolekt wird zur HTML, die Schizophrenie wahlweise zur Aufmerksamkeitsstörung oder zum Autismus. Diese spielerisch-vereinfachende Auflistung ist kaum wörtlich zu nehmen, verweist aber auf die Bedeutsamkeit des Digitalen für die aktuelle Reartikulation von Oberflächen. Gegenwärtige Pop-Oberflächen sind vielfach Post-Internet-Phänomene, womit nicht eine Ära nach dem Internet, sondern eine Reflexion auf seine Codes und Algorithmen, auf digitale Screens, Suchmaschinen und Internetphänomene wie Selfies, Likes, Gifs und Memes gemeint ist. Nicht zuletzt sind mit dem Label ›Post-Internet-Art‹ schlicht Künstler*innen adressiert, die durch ihre Online-Präsenz auf verschiedenen Kanälen berühmt wurden.
Anhand aktueller Pop-Beispiele wird im Folgenden skizziert, wie sich die postmodernen Oberflächentypen und ihre ästhetischen Prinzipien im Lichte des Digitalen verändert haben und welche neuen Herstellungs- und Umgangsweisen von und mit Oberflächen damit verbunden sind. Für die Auswahl ist dabei nicht das musikalische Genre entscheidend, sondern die Reartikulationen der zentralen Charakteristika der Oberflächentypen: Künstlichkeit (Glam), Serialität (Militärische Oberfläche) und Referenzlosigkeit (Zitatoberfläche).
Lethargischer Glam: Lana Del Rey
Die Sängerin Lana Del Rey, die Ende 2011 mit einem selbstgemachten Video auf YouTube schlagartig berühmt wurde, ist ein exemplarisches Post-Internet-Produkt. Der Clip ihres Songs »Video Games« ist ein Selfie in Videoform: Selbstgefilmte Nahaufnahmen der Sängerin wechseln sich ab mit Schnipseln aus Comics und Filmproduktionen der 1950er und 1960er Jahre. Diese bilden neben White-Trash-, Lolita- und Pin-up-Ästhetik auch entscheidende Musik- und Stylingreferenzen der Songs und Videos. Was Lana Del Rey mit dem Glam-Typ verbindet, ist ihre ostentative Künstlichkeit. Dass Haarspraywellen, falsche Wimpern und Nägel sowie aufgespritzte Lippen doch noch Provokationspotential haben, zeigt der wütende Vorwurf mangelnder Authentizität, der ihr massenhaft entgegenschlägt: Sie sei ein Marketingprodukt, das wohlkalkuliert die Retro-Nische bediene. Gleichzeitig scheint von dieser Künstlichkeit ein hohes Faszinationspotential auszugehen.
Aus einer medienästhetischen Perspektive zeigt Fetveit (2015) an den Videos Lana Del Reys, wie darin eine prekäre Ästhetik einer hochgradig ambivalenten Nostalgie zum Ausdruck kommt, die zwischen der Sehnsucht nach der verlorenen Größe Amerikas und ihrer ikonoklastischen Zurückweisung wechselt. Lana Del Reys Nostalgie ist nicht eine, die nach Ursprüngen sucht, sondern eine flache, die ganz auf Oberflächen setzt. In einem Interview berichtet sie: »Ich habe altes Filmmaterial benutzt, weil mir gefällt, wie es aussieht. Ich mag die Textur und die Farben. Aber die Sehnsucht ist meine, und es ist keine Sehnsucht nach einer vergangenen Zeit. Es ist nur… Es ist noch nicht einmal Sehnsucht. Es ist nur, dass ich darüber nachdenke, wie die Dinge einmal waren. Das hat aber nichts damit zu tun, dass ich heute unglücklich bin.« (interview.de, 21.7.2017)
Ähnlich wie bei den literarischen Vertretern der ›New Sincerity‹ ist hier eine Entintensivierung der Oberfläche beschrieben, die sich nicht einmal zu Sehnsucht durchringen kann. Atmosphärisch wird dieser Zug in der Schwerfälligkeit und Langsamkeit der Musik verarbeitet. So macht Liedke (2016) die entrückte Langeweile, die melancholische Träg- und Faulheit stark, die in der nostalgisch gebrochenen Sound- und Videoästhetik Lana Del Reys liegt.
Dieser Struktur der Verlangsamung entspricht ein intuitiver und vager Zugang zu den eigenen ästhetischen Entscheidungen. Bemerkenswert am oben zitierten Interview ist, dass Lana Del Rey jede Referenz ins Leere laufen lässt. Auf vermeintliche Lynch-Referenzen angesprochen, sagt sie, Twin Peaks nie gesehen zu haben; auf den Grund, weshalb sie sich den Namen ›Gangsta Nancy Sinatra‹ gegeben hat: »Keine Ahnung. Ich glaube, dass ich überhaupt nur zwei Songs von ihr gehört habe. […] Na ja, es ist so, dass der Begriff von meiner YouTube-Seite stammt. Auf der hab ich in den letzten fünf Jahren alles Mögliche gepostet. Sachen wie ›Gangsta Nancy Sinatra‹, ›Dope‹, ›Fuck You‹, so Quatsch eben«; mit Deutungen zu Songs und einzelnen Textzeilen konfrontiert: »Wenn ich so darüber nachdenke, hat der Text nicht sonderlich viel zu bedeuten. Ich habe einfach zwei Zeilen geschrieben, in denen sich das Wort ›cameras‹ auf das Wort ›rivieras‹ reimt. Mehr nicht. Auweia!« (interview.de, 21.7.2017)
Dass Lana Del Reys hochartifizielle, bisweilen düstere Inszenierung ans Seltsame, Unheimliche grenzt, macht sie zu einem guten Beispiel für die postironische Inszenierung: Ihre Schrägheit ist nicht Mittel zur Parodierung und wird darum auch nicht augenzwinkernd neutralisiert, sondern in einem Zustand der Ambiguität gehalten. Im Gegensatz zur bewusst konstruierten Düsterkeit etwa bei Lynch entstehe »das Düstere«, so Del Rey, bei ihr »eher aus der Sache heraus […]. Es ist organischer«. Angesichts dieser natürlichen Morbidität, die sich an den allgegenwärtigen Topoi gewalttätiger Romanzen, der Todessehnsucht, Lolita-Inszenierung und Selbstzerstörung festmacht, kategorisiert Usmar (2014) Lana Del Rey gar als Vertreterin eines Pop Gothic.
So entsteht ein Modell der ernsthaften Flachheit, der authentischen Künstlichkeit. Statt eine coole Oberfläche herzustellen wie der Glam, singt Lana Del Rey in nahezu jedem Song über ihre Verletzlich- und Abhängigkeit. Dass die postmoderne Lesart hier versagt, zeigt die »Spex«-Titelstory (Nr. 336) kurz nach Lana Del Reys Durchbruch: Man war begeistert von der Frau, die eine Frau spielt, die so künstlich ist, dass sie als weibliche Dragqueen betrachtet werden müsse. In Interviews mit solchen Deutungen konfrontiert, verweist sie nur darauf, dass sie sich statt für Feminismus eher für Kosmologie und intergalaktische Möglichkeiten interessiere. Auf Tumblr taucht Lana Del Rey neben Lolita- und Sugar-Culture-Posts auf, was Davis (2017) als postfeministische Faszination deutet. Während es bei den postmodernen Oberflächen noch eine sinnvolle Entsprechung und vielfache Allianzen zwischen Theorie und Pop gab, lässt Lana Del Rey ihre theorieinteressierten und an der Postmoderne geschulten Fans ratlos. Denn die Oberfläche wird bei Lana Del Rey weder ironisiert noch politisiert oder anderweitig aufgeladen – sie scheint sich vielmehr zu genügen.
Schmutzige Ornamente: Helena Hauff
Die militärische Oberfläche von Kraftwerk und DAF wird seit einigen Jahren verstärkt in ihrer Pionier-Rolle für die elektronische Musik und den Techno wiederentdeckt. In neueren Spielarten elektronischer Musik kommt es zu einer Steigerung der Prinzipien von Serialität, Flächigkeit und Ornamentalität, in den vergangenen Jahren aber auch zu einer neuen Analog- und Vinyl-Begeisterung nach der großen Computereuphorie der 1990er Jahre. Ein gutes Beispiel für diese ambivalente Haltung gegenüber der Maschine ist die Hamburger DJane Helena Hauff.
Einerseits ist die Maschine der Ausgangspunkt ihrer DJ-Sets und eigenen Stücke, wie sich an der Entstehung ihres ersten Albums »Discreet Desires« zeigt: »Ich bin wie ein leeres Blatt Papier. Wenn ich Stücke aufnehme, stelle ich meine Maschinen an und probiere aus. Stundenlang. Wenn ich das Gefühl habe, die Klänge und Rhythmen könnten zusammenpassen, drücke ich Aufnahme«. Nicht nur der Entstehungsprozess lässt sich ganz auf die Maschinenlogik ein; auch die Soundästhetik erhält eine maschinelle, industrielle, kalte Grundierung. Diese Liebe zur Maschine wird allerdings von einer starken Abneigung gegen Computer begleitet, weshalb Hauff nur mit Vinyl auflegt und Sounds favorisiert, »die nicht zu überproduziert sind, die roh klingen und auch Fehler zulassen. Mutationen, das ist etwas Menschliches, eine künstliche Intelligenz, ein Algorithmus wäre dazu nicht in der Lage.« Solche Mutationen beruhen auf Zufällen, auf »unvorhergesehene[n] Kombinationen und Fehlprogrammierungen«, welche sich, so Hauff, aus der analogen Infrastruktur der Maschinen selbst ergeben (kaput-mag.com, 3.9.2015).
Auch wenn Hauff sich immer wieder von »hippieeske[n], natürliche[n], warme[n] Sounds« abgrenzt, macht sie damit die organische Komponente der Maschine stark, die bei ihr nicht im gleichen Maß kontrolliert und seriell wie bei Kraftwerk klingt, sondern »rough, schmutzig und ein bisschen kalt«. Für diese Verschaltung von industriellen und organischen Sounds findet sie ein Beispiel, in dem das Aufeinandertreffen von Technik und Natur als Nebenprodukt einen Sound hervorbringt: »Irgendwann ging ich mal am Hamburger Hafen spazieren und da gab es so ein tolles Gerät, welches den Schlamm vom Boden saugte. Dieses Gerät erzeugte ein wahnsinnig tolles Geräusch: den perfekten Technotrack« (ebd.). Anders als bei Kraftwerk oder DAF folgen Technostücke nicht dem klassischen Songformat von Strophe und Refrain, sondern sind flächiger, reduzierter und häufig frei von Gesang. Für das Soundornament bedeutet das, dass anstelle eingängiger Melodien, Stimmen und Lyrics die abstrakteren Texturen und Muster der Musik in den Vordergrund treten, die als ornamentale rhythmische Verdichtung ihre Sogwirkung freisetzen, gleichzeitig aber auch von einer temperierten Beiläufigkeit gekennzeichnet sind.
Zur Entfaltung kommt diese Wirkung erst im Club als dem Aufführungsort elektronischer Musik, die nicht nur die nötige Lautstärke zulässt, sondern mit dem tanzenden Publikum auch eine spezifische situative Rahmung erfährt. Im Vergleich zur Konzertsituation wird im Club die Fixierung auf die Bühne der DJane relativiert – allein dadurch, dass sie nicht in erster Linie eigene Stücke spielt und die Grenzen der Sets im Laufe der Nacht verschwimmen (wenn auch in den letzten Jahren die Tendenz, zum DJing zu tanzen, und ein ähnlicher Starkult wie bei klassischen Bands dies konterkariert). Das DJ-Set wird so zu nur einem Bestandteil einer »Dramaturgie des Clubs«, zu deren Beobachterin die DJane umgekehrt wird: »Ich mag die gesamte Dramaturgie, schaue genauso gerne den ersten, die reinkommen, beim Tanzen zu, wie den letzten, die kaum mehr stehen können, beim Nicht-mehr-tanzen, beim Fallen« (ebd.). Diesen Szenen routinierter Abstürze geht jede Dramatik ab; sie zieht sich über viele Stunden und kann – dies geschieht immer häufiger – beliebig auf ganze Tage verlängert werden. Die Flächigkeit der Musik paart sich häufig mit einer gedämpften, mitunter fast trägen Grundstimmung, die sich in der Beliebtheit betäubender Partydrogen verlängert, etwa des Anästhetikums Ketamin. Statt Transgression fördert diese neue Dramaturgie des Clubs allenfalls eine zeitweilige Immersion.
Das sich zum Sound bewegende Publikum erzeugt selbst eigene Rhythmen, die sich mit den Rhythmen des Sounds verbinden. Paul C. Jasen zeigt in seiner Studie »Low End Theory« (2016) am Beispiel des Technoclubs auf, wie diese Verschmelzungserfahrung zwischen menschlichen Körpern und Soundkörper, dem »Sonic Body«, funktioniert. Er betont hier insbesondere die Rolle von Bässen, Frequenzen und Infraschall, die sich im Rahmen eines »Vibratorischen Milieus« vielfach auf unbewusste Weise mit empfindenden Körpern verschalten (ebd.: 22). Die Vibration ist nicht nur ein akustischer Eindruck, sondern durchwandert das gesamte Sensorium. Indem der Bass Körper bewegt, bindet er sie zusammen, lässt aber zugleich auch den individuellen Körper aufspalten, »spektral« werden: Er wird zu einer »skin that thinks and brain(s) that dance(s)« (ebd.: 30). Hatte das Publikum des Massenornaments bei Kracauer dieses aus der Distanz visuell wahrgenommen, so wird das Publikum im Technoclub selbst zum Bestandteil des Ornaments eines »Sonic Body«. Jasens Pointe ist, dass diese Prozesse affektiv, d.h. nicht sprachlich oder diskursiv funktionieren, was mit der Abwesenheit von Text im Techno korrespondiert. Mehr noch als die militärische Oberfläche der Postmoderne ist der Techno zunächst von Inhalten befreit: Die ornamentale Sound-Oberfläche verbirgt keine Tiefenstruktur, sondern wird zum Selbstzweck.
Cyborg-Werden, Oberfläche-Werden: Grimes
Für die Transformation des Zitat-Typs steht die kanadische Künstlerin Grimes ein. Im Gegensatz zu Lana Del Reys Nostalgie verfolgt sie einen futuristischen Entwurf. Ambiguität wird beim selbsternannten Cyborg Grimes nicht unterschwellig, sondern exzessiv verhandelt. Ihre musikalischen und performativen Strategien der Verzerrung, Verfremdung und Schrillheit sollen aber nicht in erster Linie irritieren. Danceability und Eingängigkeit sind die höchsten Ziele, die Musik soll erklärterweise Vergnügen bereiten, zum »pleasure centre« vordringen (mcgilltribune.com, 23.9.2014). Dieser Oberflächenansatz wird auch deutlich, wenn Grimes betont, dass am Anfang eines Songs oder Albums stets das Plattencover oder Video stehe und erst dann die Musik komme.
Weil sie viel zitiert, wird sie etwa von spiegel.de (6.11.2015) als postmodern klassifiziert, was auch hier auf Lesbarkeitsprobleme verweist. Denn die postmoderne Referenzlosigkeit scheint bei Grimes dadurch überwunden, dass die gewählten Referenzen keine (Neu-)Aneignung vormals anders kodierter Zeichen sind, sondern aus dem Repertoire der Referenzlosigkeit selbst stammen, den 1990er Jahren: Bei japanischen Manga-Figuren, Bubblegumpop, Eurotrash oder Gothic-Elfen erübrigt es sich, Anführungszeichen in die Luft zu malen. Der Mut zu Cuteness und Kitsch führt bei Grimes also weder zu einer Ironisierung noch fügt er sich in die Ästhetiken der ›New Sincerity‹ ein. Es entsteht ein durch und durch synthetischer Sound, der weder kühl noch glatt ist. Coolness und Distanz weichen lieblich gehauchten Gesängen, nervöser Verspieltheit, autistisch anmutender Schüchternheit und einer Zuwendung zur Magie.
Wie Ohlendorf (2016) am Beispiel von Grimes und Childish Gambino zeigt, bedienen sie sich nicht nur der Ästhetik des Internets, sondern strukturieren diese Ästhetik und die Imagination dessen, was das Internet ausmacht, produktiv mit. Ähnlich wie Lana Del Rey wurde Grimes durch das Internet berühmt und prägte für ihre eigene Musik das Label »Post-Internet« – nicht nur, um zu zeigen, dass sie, die der DIY-Szene Montreals entstammt, ihre Songs nach wie vor selbst zu Hause am Computer produziert, sondern auch, weil mit dem Internet eine »neue Spezies« entstehe. Studiert hat sie Neuroscience und dann Musik, vor allem aus dem Interesse heraus, wie Musik durch Wellen und Schwingungen einen elektrischen Impuls generiert, der dann eine emotionale Reaktion auslöst. Unter allen Kunstformen sei Musik die abstrakteste, denn sie sei »just in the air«, wirke aber dennoch unmittelbar körperlich. Der Grund: Musik spiegele basale evolutionäre Faktoren wie den Herzschlag oder den Atem: »So you take these things that go back a long way, deep in our evolutionary core, and then turn that into, like, Britney Spears. I find that so fascinating!« (themusic.com, 12.4.2012)
Ganz in diesem Sinne werden die Codes und Algorithmen des Digitalen zusammengeschlossen mit dem Potential der Popmusik, Körper zu affizieren. Hier fügen sich bei Grimes ätherisch-evolutionäre Motive ein – ihre Songs heißen »Genesis«, »Flesh Without Blood«, »Skin« oder »Be A Body«, wo sie haucht: »I close my eyes until I see I don’t need hands to touch me« – »be a body« ist Aufforderung und Programm. In diesem Körperwerden deutet sich ein Entwurf an, der weder das Digitale noch das Organische priorisiert, sondern beides in seiner Materialität konsequent verschaltet – Soundoberfläche wird zur taktilen Affektoberfläche. Als Produktionsmethode des Albums »Visions« nannte Grimes entsprechend, es in neun Tagen Isolation ohne Schlaf, Essen und Licht erschaffen zu haben, bis sich die transzendentale Erfahrung einstellte, als Gefäß Gottes zu operieren. Anders als bei F.S.K. folgt das Zitieren bei Grimes keiner Abgrenzungs-, Verweis- oder Geheimcode-Struktur – es steht vielmehr immer schon im Zeichen des Affizierens. In diesem magischen und zugleich protokybernetischen Zug ist nicht ein Meistern der Oberfläche angelegt, sondern vielmehr ein Zur-Oberfläche-Werden.
Schluss
Die Affektoberflächen deuten so überraschenderweise eine neue Allianz von Pop und Theorie an: Gilles Deleuze, einer der wichtigsten postmodernen Theoretiker, wird heute verstärkt neovitalistisch gelesen – betont werden im Anschluss an Bergson und Spinoza Energien, Intensitäten, Flows, Affekte im Sinne des Vermögens von Körpern, zu affizieren und affiziert zu werden. Statt eines Modus der Kritik eröffnet sich hier ein Modus der Affirmation – ein aktualisiertes »Ja zur modernen Welt« jenseits kritisch-strategischer Überaffirmation.
Bei Jameson war Intensität ein negativer, weil ›oberflächlicher‹ Gegenbegriff zur Erfahrung; bei Lyotard ein positiver Immanenzbegriff der Oberfläche. Beide stimmen allerdings in ihrem exzessiven Verständnis von Intensität überein. Während sich dieser Exzess in den Pop-Oberflächen der Postmoderne noch dokumentierte, zeichnet sich in den gegenwärtigen Reartikulationen der Oberflächen ein verändertes Intensitätsmodell ab. Wie bei Lyotard, handelt es sich um ein positives Modell der Intensität, aber sein enthusiastischer, exzessiver Charakter ist in den Hintergrund getreten. Stattdessen verbindet sich Intensivierung auf eigentümliche Weise mit Apathie und bringt einen beiläufigen, temperierten Intensitätsmodus hervor, der in der apathischen Langsamkeit Lana Del Reys oder der trägen Ornamentalität des Techno als Entintensivierung auf den Plan tritt; bei Grimes wird das Exzessive zwar fortgeführt, zugleich aber in eine Welt des Ätherischen überführt. Wichtiger noch: Das alte Souveränitätsmotiv, das auf Coolness- und Distanzgesten setzte, wird in allen diskutierten Beispielen eingeebnet. Es geht nicht mehr um ein Meistern der Oberfläche, sondern darum, selbst zu einem Teil der Oberfläche zu werden.
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Elena Beregow ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Allgemeine Soziologie und Soziologische Theorie, Universität Hamburg.