Eine weitere Manifestation des „Fetischs der Echtheit“
Sie sind wieder da! Genau genommen war es nie wirklich weg, jenes Medium, das einst selbstverständlicher Teil popmusikalischer Sozialisation war und heutzutage nicht nur Sammlerherzen höher schlagen lässt. Die schon länger zu beobachtende „Rückkehr der schönen schwarzen Scheiben“ (Wagner 2018) bietet nun Anlass, die aktuelle Konsumrezension der Schallplatte und einer damit verbundenen Kultur des Vinyls zu widmen. Der hier gewählte Bezug auf den lokalen Kontext Köln ist keineswegs zwingend. Allerdings mögen die Stichworte ‚Saturn‘, ‚a-musik‘, ‚Groove Attack‘ und ‚Kompakt‘ vielleicht schon andeuten, dass die Vinylkultur der Domstadt durchaus ein geeigneter Ausgangspunkt für die Annäherung an die recht vielschichtige Thematik ist.
Plattenläden als ökonomische Nischen
In der Kölner Innenstadt, am Hansaring, Mitte der 1990er Jahre: Auf der einen Seite des Boulevards der Branchenriese Saturn, welcher zu jener Zeit neben CDs, Hifi-Anlagen und Fotokameras bereits Computer, Staubsauger und Kaffeemaschinen anbot. Im gegenüberliegenden Teil der Ritterstraße zunächst zwei, später dann zeitweise drei Schallplattenläden mit unterschiedlichem Sortiment. Dabei profitieren diese Geschäfte durchaus nach wie vor von der Nähe zu Saturn. Denn diese zog und zieht Laufkundschaft nach sich, wodurch die beiden nunmehr verbliebenen Nischenanbieter gelegentlich neue Stammkunden gewinnen können. Underdog Records setzt dabei vor allem auf Neuerscheinungen im Bereich gitarrenorientierter Musik in Tradition und Nachfolge des Punk, der benachbarte Laden, Black Diamond Records, bietet gebrauchte Vinylschallplatten mit den Schwerpunkten Jazz, Klassik und klassischer Rock an. Der Branchenriese Saturn hingegen hatte das Vinyl, selbst während des Siegeszuges der CD, nie zur Gänze aus dem Programm gestrichen, wohl aber in die hinteren Winkel des Geschäfts verbannt. Dabei basierte die Erfolgsgeschichte der Firma im Wesentlichen auf dem Schallplattenhandel und sie warb über Jahre (wohl auch zurecht) damit, das größte Sortiment weltweit zu bieten.
Angesichts der mittlerweile schon länger erfolgten Rückkehr der Vinylplatten in den Eingangsbereich des Stammhauses von Saturn, könnte man zunächst geneigt sein zu vermuten, dass die Logik der kapitalistischen Ökonomie nicht immer logischen Wegen folgte. Allerdings ist auffällig, dass die Wiederaufnahme des Produktes Vinyl mit dem Bedeutungsverlust der CD koinzidiert, welche zunehmend durch digitale Formate und Streaming-Dienste abgelöst wird. Jenen neuen, prinzipiell ständig und überall verfügbaren medialen Formaten wird nun ein eigentlich technisch schon lange überholtes Produkt als jeweiliges Einzelstück entgegengehalten, welches neuen und alten Zielgruppen vor allem Wertigkeit verspricht. Diese wird zunächst optisch durch entsprechende Präsentation in Schaufenstern und Eingangsbereich in Szene gesetzt, was nebenbei auch dem Umstand Rechnung trägt, dass man die Covergestaltung als eine mit der Musik korrelierende Kunstform verstehen kann. Neben der soliden Qualität der Hüllen wird die neue Wertigkeit der Vinyl-Schallplatte aber oft auch höchst subtil durch das Gewicht suggeriert. Auch wenn Vinyl-Fans immer wieder betonen, dass ihnen der haptische Aspekt des Mediums wichtig sei, brauchen gute Pressungen nicht notwendigerweise jene „Heavyweight 180 Gram“[1] des Kunststoffs Polyvinylchlorid, welche gerade Reissues wie etwa die von Pharao Sanders Album Karma aus dem Jahre 1969 heutzutage gerne verwenden.
Dergleichen hat natürlich seinen an der Kasse zu entrichtenden Preis, und die merkantilen Motive der erneuten Anpreisung des Produkts Vinylplatte lassen sich unschwer vermuten. Zunächst werden jene älteren Jahrgänge angesprochen, die den schwarzen Scheiben eh verbunden geblieben waren. Allerdings sind auch weniger konservative Musikkonsumenten, die ihre Schallplatten einst sukzessive gegen CDs austauschten, im Visier der Markstrategen. Diejenigen kaufen nun im Zweifelsfall das eine oder andere lieb gewonnene Album zum dritten Mal; im Idealfall für den Anbieter Saturn gar an einem der vielen Standorte, welche die Firma mittlerweile hat oder auch per Bestellung in deren Onlineshop. Die dritte Zielgruppe bilden junge Musikfans, welche im Zuge allgemeiner Retromania (Reynolds 2011) den antiquierten Plattenspieler und die Platten lieb gewonnen haben und sich damit unter anderem wirkungsvoll von ihren Altergenoss*innen absetzen können. Die „feinen Unterschiede“ (Bourdieu 1987 [1979]) spiegeln sich nicht mehr lediglich im Repertoire, sondern auch in der Wahl medialer Formate. [2]
Vertreter*innen dieser drei Zielgruppen gehören allerdings durchaus auch zu den Kunden der erwähnten verbliebenen zwei Plattenläden auf der anderen Seite des Hansarings sowie zur Zeit rund 14 weiteren Geschäften in Köln, die Vinyl führen.[3] Während Saturn Wertigkeit in Form von Reissues an den Käufer bringen möchte, erfolgt dies auf dem Gebrauchtmarkt zunächst über den Zustand von Platte und Cover, bei nerdigen Sammlern aber auch über die Pressung. Dass dabei Originalpressungen, und zwar unabhängig von deren, durch die jeweils verwendete Aufnahmetechnik gegebene Soundqualität, potentiell Höchstpreise erzielen, wird noch näher zu reflektieren sein. Dabei dürften sich die Gruppe der Sammler*innen mit jener der Fans überschneiden, die alte oder eben auch neue Veröffentlichungen bestimmter Gruppen, Genres oder Subgenres aus musikalischen – oder auch sozialen – Motiven erwerben.
Der Handel mit Neuware funktioniert vor allem über die Spezialisierung auf ein bestimmtes Segment von verwandten Genres und ist im Falle von Kompakt, Groove Attack und a-musik auch mit je eigenen Labelaktivitäten in unterschiedlichem Ausmaß verbunden. Doch auch diese Neuveröffentlichungen werden auf dem Vinylmarkt schnell zu potentiellen Sammlerobjekten, da viele Releases in kleinen oft sogar bewusst limitierten Auflagen auf den Markt gebracht werden.[4] Im Hinblick auf eigene Veröffentlichungen war das Label Kompakt besonders erfolgreich. Seine poporientierte Variante des Genres Minimal Techno konnte sich als „Sound of Cologne“ international etablieren (Nieswandt 2017). Trotz einer Präferenz für das Medium Vinyl veröffentlich Kompakt allerdings schon lange auch in nachfolgenden medialen Formaten. Der Plattenladen der Firma in der Werderstraße wird aber ebenso gerne von in Köln auflegenden DJs aus dem Ausland besucht, wie der von a musik, wobei in letzterem vor allem nach Krautrock und anderer eher experimentell ausgerichteter elektronischer Musik gesucht wird.[5]
Disc-Cultures
Das Medium Schallplatte stellte zweifelsohne einen tiefgreifenden kulturellen Paradigmenwechsel dar. Es ermöglichte Musikstücke, d.h. musikalisch gestaltete Zeitverläufe ungleich unmittelbarer reproduzierbar zu machen als die im Hochmittelalter entwickelte und zunehmend ausdifferenzierte Notenschrift. Während es im weiten Bereich der europäischen Kunstmusik vor 1900 immer wieder Versuche der Rekonstruktion des ,Ursprünglichen’ gab, kann das, was einmal in mittlerweile mehr als hundert Jahren der Phonographie aufgenommen worden ist, heute noch so gehört werden, wie es eingespielt worden ist. Selbst Nuancen der künstlerischen Gestaltung des musikalischen Materials sind somit, zumindest bei entsprechender technischer Qualität, zunächst dem Verlauf der Zeit, dann aber auch ihrem Vergessen entrissen.
Schallplatten erschienen somit als unmittelbarer, indexikalischer Ausdruck musikalischer Artikulation (vgl. Diederichsen 2014: XIX ff.). Die auch dadurch verheißene Authentizität stand allerdings alsbald in einem potentiellen Spannungsverhältnis zu der zunehmenden technischen Perfektion von Aufnahmen wie auch überhaupt dem gesamten Prozess des Abmischens und, im Falle der Populären Musik, durchaus auch der Virtuosität musikalischer Akteure. Der Punk Rock brachte dann unter anderem nicht nur dem vermeintlichen oder tatsächlichen musikalischen Dilettantentum, sondern auch den eigentlich störenden und überwunden geglaubten Geräuschen Wertschätzung entgegen. Spätestens Rock-Produktionen der 1990er Jahre, die vom Post-Punk inspiriert waren, dürften jedoch verdeutlichen, dass die medial erzeugte Nähe zu Instrumenten und Stimmen (zu Handwerk und Körper der Akteur*innen) stets rhetorischen Charakter hatte (Frith 1998: 187 ff.) – erwähnt sei etwa das Kratzen des Plektrums im Gitarren-Intro von „Smells Like Teen Spirit“ (Nirvana 1991) oder auch das laut vernehmliche Einatmen von Axl Rose in der zweiten Strophe von „Don’t Cry“ (Guns And Roses 1991).[6]
Lange Zeit standen Schallplatten und nachfolgende mediale Formate im Schatten des Konzerts, und Live-Alben vermochten die Lücke vom unmittelbaren Erlebnis zum nachgelagerten heimischen Hören nicht zu schließen, wenn sie oft auch spannende neue Versionen des Repertoires der jeweiligen Künstler*innen boten.[7] Dementsprechend war auch der Bereich der Populären Musik zunächst eine Live-Culture (Thornton 1995: 31). Jedoch ist bereits für die 1920er Jahre im Kontext des Jazz in Großbritannien (und wohl auch anderen Ländern) die Entstehung einer primär medial basierten Disc-Culture festzustellen. Diese Entwicklung war vor allem der Tatsache geschuldet, dass in jener Zeit US-amerikanische Interpreten äußerst selten in Europa auftraten (Thornton 1995: 66 f.). Durch diesen Umstand waren es Schellackplatten, welche zum ,Ort’ der originären Begegnung mit den ,hotten’ Klängen von der anderen Seite des Atlantiks wurden. Dieser Vorgang wiederholte sich im Falle des Rock’n’Roll, wobei es nun die vermehrt auch zum öffentlichen Tanzen aufgelegten Platten waren, welche als Originale galten (ebd.). Die technologische Enkulturation der Schallplatte führte somit zur Authentifizierung, gar zur potentiellen Auratisierung dieses Mediums (Thornton: 1995: 29) – die Kopie wurde zum Original. [8]
Davon gibt das hier thematisierte Phänomen der Vinylkultur beredt Auskunft, aber auch die damit zunächst äußerst eng verbundene DJ-Culture (Poschardt 1995). Für DJs wurden die Platten ab den 1970er Jahren allerdings zunehmend zum Rohmaterial für eigene musikalische Artefakte, wobei die Grenzen zwischen Mix, Edit, Remix und neuem Track spätestens mit der Einführung des Sampling in den ausgehenden 1980er Jahren verwischt worden sind. Dies lässt sich in Genres wie House, Electro, Techno und Hip-Hop ebenso feststellen, wie in der in mancherlei Hinsicht konstitutiven Disc-Culture Jamaikas mit ihren mobilen Soundsystemen und den Praxen des Remixens im Dub Reggae (Karnik 2017). Auch heute gibt es in allen tanzorientierten Genres der Populärmusik DJs, die noch immer oder schon wieder Platten auflegen oder zumindest auch noch das Medium Vinyl bei ihren Auftritten neben CDs oder dem mit digitalen Tracks bespielten USB-Stick dabei haben.
Vinyl-Fetischismus
Der größte gemeinsame Nenner der Jünger*innen der umfassend ausdifferenzierten Vinylkultur dürfte vermutlich neben der medialen Präferenz in der Sammelleidenschaft liegen. Diese kann sich im Falle von Schallplatten ganz unterschiedlich manifestieren: So etwa in dem Wunsch, alle Veröffentlichungen einer bestimmten Band zu haben, das Sammeln kann sich auf Labels oder Genres beziehen und natürlich auch auf besonders rare Pressungen, die bei Discogs, der wichtigsten Internetplattform für den Handel mit gebrauchtem Vinyl (und CDs), durchaus häufiger für mehrere hundert Euros gehandelt werden.[9]
Die Vinylplatte gerät so im mehrfachen Sinne zum zunächst produzierten und präsentierten, dann begehrten und verehrten Fetisch – ein Objekt, von dem insbesondere von der Sammelleidenschaft infizierte meinen, es unbedingt ihr eigen nennen zu müssen. Damit geht zweifelsohne erneut ein sozial distinktives Ranking einher, wohl aber auch eine spezifische Variante der erotischen, d.h. der begehrenden Liebe, die sich auch auf geistige Inhalte oder eben Objekte beziehen kann.[10] Im Falle der Vinylscheiben kann dabei die Erstpressung eine besondere Aura gewinnen (und entsprechende Preise erzielen), welche trotz ihrer technischen Reproduktion eines einmaligen musikalischen Ereignisses, besonders nah an diesem aber auch den jeweiligen Zeitumständen sowie der einstigen Neuartigkeit der Veröffentlichung zu sein scheint. Damit wird sie zum vermeintlich besten Garanten ersehnter Authentizität (vgl. Thornton: 1995: 29). Die Vermutung liegt nahe, dass sich Vinylplatten inzwischen bestens als weitere Manifestation eines allgegenwärtigen „Fetisch der Echtheit“ eignen (vgl. Diederichsen 2012).
Jene potentiell identitätsstiftende Suche nach ,Authentischem’ wird durchaus auch in der Sammelpraxis vieler Produzent*innen im Bereich der elektronischen Populärmusik deutlich, für die Platten stets mögliche Quellen von Samples sind. Dabei wäre es verkürzt, das Samplen von Passagen alter Platten lediglich darauf zurückzuführen, dass die Betreffenden zumeist nicht über eine musikalische und instrumentalistische Ausbildung verfügen. Vielmehr ermöglichen Samples zum einen das Fehlen entsprechender Studiotechnik zu umgehen. Sie dienen darüber hinaus – selbst in technisch manipulierter Form – aber zumeist auch als künstlerische Referenz und damit der Authentifizierung der Produzierenden innerhalb eines Genres und den damit mehr oder weniger eng verbundenen Traditionslinien (vgl. Kaul 2017: 82 f.).
Während innerhalb der DJ-Culture Vinylplatten als Rohmaterial für neue musikalische Artefakte dienen, sammeln Sammler des Öfteren lediglich um des Sammelns willen und um das heimische Plattenregal noch weiter zu befüllen. Bei nüchterner Betrachtung erscheint gerade diese zweite Variante dann vielleicht doch als mehr oder weniger ausgeprägter, eigentlich jedoch unsinniger Vinyl-Fetischismus. Aber wer will dergleichen schon hören?! Wo es doch so schön ist, im Plattenladen oder auch im Netz gezielt zu sammeln oder zufallsorientiert zu diggen, um dann Ersehntes in den Händen halten zu können, das Cover zu betrachten, eventuell gegebene Informationen zu studieren und am Ende gar auf die Idee zu kommen, die Vinylplatte ihrer Hülle zu entnehmen, aufzulegen und dann dem, um das es doch eigentlichen gehen sollte, zu lauschen.
Anmerkungen
[1] https://www.vinyl-digital.com/Black-Grooves/Soul/Karma.html, [Zugriff: 03.10.19].
[2] Diese Distinktion via medialem Format wird allerdings des Öfteren dadurch unterlaufen, dass sich sowohl bei Reissues als auch Neuveröffentlichungen auf Vinyl beigefügte Coupons zum digitalen Download der Musik finden lassen, siehe z.B.: Pharao Sanders, Karma, 2015 [2015] oder auch Death In Vegas, Transmission, 2016. Letztgenanntes Techno-Album besteht eigentlich aus 3 EPs und besticht nicht nur einen großzügigen Vinylschnitt und dementsprechende Bässe, sondern auch durch ein höchst ansprechendes Artwork.
[3] Im Rahmen meiner Recherchen für diesen Beitrag bekam ich die Vinyl Map Cologne (O.N. 2017) in die Hand gedrückt. Diese stammt aus dem Jahre 2017 und führt 16 Plattenläden auf, welche dann auch im Sommer 2018 vom Kölner-Stadt-Anzeiger unter der Überschrift „Vinyl-Platten-Boom“ (Wagner 2018) aufgeführt wurden. Meines Wissens nach existieren mindestens zwei davon leider nicht mehr. Allerdings gibt es auch neue Anbieter wie etwa Vintage& Vinyl in Neu-Ehrenfeld, die zumindest auch gebrauchte Vinyl-Platten anbieten. Die Veröffentlichung der Vinyl Map Cologne wurde von Frank Dommert von a-Musik konzipiert und mit Geldern des Kulturamtes der Stadt Köln gefördert. Die Vinylkultur erscheint somit als ein Teil der Selbstdarstellung Kölns als Kultur- und Medienmetropole und attraktiver urbaner Standort. An das Thema Vinyl docken auch andere lokale Anbieter wie beispielsweise die von Postkarten an; so lassen sich etwa alternativ „Geburttagsgrüße aus Köln“ oder „Geburtstagsgrüße aus Ehrenfeld“ versenden, wobei jeweils eine Platte als ikonographisches Symbol neben Kölner Dom, bzw. rotem Stern fungiert.
[4] Ein Beispiel für diese recht gängige Praxis ist die EP Aux 447 (2017) der Produzenten Fah (aka Robin de Bekker) und omni causa (aka mnvr, bzw. Dominic Dammer). Diese experimentell orientierte Electro-Platte ist unbetitelt und in einer limitierten Auflage von 150 Exemplaren auf den Markt gebracht worden. Ich hatte im Jahr der Veröffentlichung die Nr.77 für € 10,50 erworben, zur Zeit wird ein Exemplar der Veröffentlichung für € 15,60 auf Discogs angeboten [Zugriff: 03.10.19]. Neben der Limitierung ist auffällig, dass die einfache Papierhülle des Covers durch einen per Hand aufgeklebten Farbfotoabzug aufgewertet worden ist. Analoge Praxen individueller Gestaltungen von Covers kleinerer Auflagen lassen sich auch bei dem Kölner House- Label Yore-Records feststellen (Andy Vaz, Bicycle Love, 2013).
[5] Die Angaben zu in Köln auftretenden DJs basieren auf entsprechenden Äußerungen, die sich am Rande meiner musikethnographischen Feldforschungen in der Kölner House- und Technoszene ergaben. Die internationale Reputation von a-musik in dieser Szene lässt sich auch daran ablesen, dass das vergleichsweise kleine hauseigene Label in „Electronica: The Definitive Guide to Electronic Music“ aufgeführt ist, wobei dessen Veröffentlichungen in der Tradition des experimentellen Krautrocks verortet werden (Boganov et.al. 2001: 657).
[6] Bezeichnend ist auch, dass im Bereich des Hip-Hop seinerzeit das Phänomen auftrat, dass digital produzierte Tracks, die überwiegend als CD verkauft wurden, mit dem Knistern von Vinylplatten unterlegt wurden. Die Rhetoriken des Recordings entsprechen denen der Fotographie- auch dort wird indexikalische Unmittelbarkeit lediglich behauptet (Barthes 1978a, Barthes 1978b).
[7] Hierbei sind weitere Spannungsfelder abzulesen. Diese werden etwa am Beispiel der Beatles deutlich, die ab Mitte der 1960er angesichts der seinerzeit unzulänglichen technischen Möglichkeiten nicht mehr live auftraten, dafür dann aber in der Folgezeit das Format des Studio-Albums erheblich voranbrachten. Des Weiteren ist darauf hinzuweisen, dass Schallplattenveröffentlichungen zwar einerseits vielfach den Wunsch erzeugten, die jeweiligen Interpreten auch live erleben zu können, andererseits aber auch zweifelsohne Erwartungshaltungen bezüglich des dann präsentierten Live-Repertoires und dessen Interpretationen nach sich zog. Jeder musikalische Moment des Konzert-Erlebnisses konkurriert dann zumindest potentiell mit dem der Aufnahmesession und von dessen individueller Rezeption (vgl. Frith 1998: 226 ff.).
[8] Sarah Thornton weist in Auseinandersetzung mit Walter Benjamins (2010 [1936] Thesen zur Kunst im Zeitalter technischer Reproduzierbarkeit zurecht darauf hin, dass die immer weiter verbesserten Möglichkeiten zur Aufzeichnung von Musik nicht die Aura des jeweiligen musikalischen Original demystifizierten. Vielmehr konnten Platten trotz ihres Charakters als technische Reproduktionen musikalischer Artefakte ihrerseits durch Neuartigkeit, Exklusivität und Seltenheit veränderte Formen auratischer Aufladung gewinnen (Thornton 27 f.).
[9] Olaf Karnik und Volker Zander haben dem sehr facettenreichen Phänomen des Vinyl-Sammelns letzthin das hervorragende Radio-Feature „Vinyl und Wert- die Ökonomien der Schallplatte“ (Karnik/Zander 2019) gewidmet. Dieses bestätigte manche Ergebnisse meiner eigenen musikethnologischen Forschungsergebnisse und sich daraus ergebender Überlegungen zum Thema Vinyl, erwies sich aber darüber hinaus auch als wertvolle Ergänzung.
[10] Hier ist zunächst der „Fetischcharakter der Warenwelt“ von Interesse, welcher aus dem „eigentümlichen gesellschaftlichen Charakter der Arbeit, welche Waren produziert“ resultiert (Marx 1968 [1867]: 87). Die gesellschaftliche Dimension von Arbeit, Ware und deren Wert verhüllt jedoch eben der „Fetischismus, der den Arbeitsprodukten anklebt, sobald sie als Waren produziert werden, und der daher von der Warenproduktion unzertrennlich ist.“ (ebda.). Daran anknüpfend verwies Theodor W. Adorno darauf, dass auch Musik als kulturindustrielle Ware „Fetischcharakter“ annehmen könne (Adorno 2003 [1938]). Hingegen besetzte Diedrich Diederichsen „Klangfetische“ innerhalb seiner Konzeption von potentiell gegenkultureller Popmusik hingegen positiv, als ein „Durchbrechen der rein musikalischen Lied- und Aufführungsform […] mittels indexikalischer und Sprechakt-Elemente, die eine direkte Verbindung zur nicht-fiktiven Realität haben“ (Diederichsen 2014: 121). Derartige Fetisch-Sounds werden begehrt, wobei sich durchaus Verbindungen zum psychologischen Verständnis des Fetischs als Gegenstände sexueller Stimulation ergeben. Die Ware Vinylplatte wird aufgrund der dort abgespeicherten Musik, mittlerweile aber auch durch das Medium als solches mit sozial konstituierten Bedeutungen aufgeladen und dadurch (mit Marx und Adorno) generell oder (mit Diederichsen) im Einzelfall zum anziehenden Fetisch, dessen Besitz gar zur Erfüllung geraten kann. Aus der Tatsache, dass sich in unmittelbarer Nachbarschaft der hier besprochenen Plattenläden auch schon des längeren eine Filiale der Erotik-Kette Orion mit einem Fetisch- Shop befindet, ergibt sich dann allerdings kein unmittelbarer inhaltlicher Zusammenhang zu der höchst komplexen und hier lediglich angerissenen Thematik.
Literatur
Adorno, Theodor, W. (2003 [1938]). Über den Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Hörens. In: Dissonanzen. Einleitung in die Musiksoziologie. Frankfurt: Suhrkamp, 14- 50.
Barthes, Roland (1978 a). The Photographic Message. In: Image, Music, Text. Ders.. New York: Hill and Wang, 15- 31.
Barthes, Roland (1978 b). Rhetoric of the Image. In: Image, Music, Text. Ders.. New York: Hill and Wang, 32- 51.
Benjamin, Walter (2010 [1936]). Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Berlin: Suhrkamp.
Boganov, Vladimir/Woodstra, Chris/Erlewine, Stephen Thomas/Bush, John (2001), Hg. Electronica: The Definitive Guide to Electronic Music. San Francisco: Backbeat Books.
Bourdieu, Pierre (1983). Die feinen Unterschiede, Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt: Suhrkamp.
Frith, Simon (1996). Performing Rites. On The Value Of Popular Music. Cambridge (Mass.) Harvard University Press.
Diederichsen, Diedrich (2012). Sei voll authentisch! Erfinde die neu! In: Tagesspiegel, 14.08.2012, unter: https://www.tagesspiegel.de/kultur/diederichsen-ueber-authentizitaet-sei-voll-authentisch-erfinde-dich-neu/6996194.html, [Zugriff: 03.10.19].
Diederichsen, Diedrich (2014). Über Pop-Musik. Köln: Kiepenheuer& Witsch.
Karnik, Olaf (2017). Dub- Vom Remix zur Produktionsmethode. In: Global Pop. Das Buch zur Weltmusik. Hg. Von Claus Leggewie und Erik Meyer. Bonn, BpB, 340- 352.
Karnik, Olaf/Zander, Volker (2019). Vinyl und Wert. Die Ökonomien der Schallplatte. Manuskript Radio-Feature, unter: https://www.swr.de › swr2 › programm › download-swr-4816, [Zugriff: 03.10.19].
Kaul, Timor (2017). Musikalische DIY-Praktiken des Sekundären und Professionalität der Beiläufigkeit. DJs und Producer im Bereich House/ Techno. In: Lied und populäre Kultur. Jahrbuch des Zentrums für Populäre Kultur und Musik. Professionalität. Hg. von Knut Holtsträter und Michael Fischer. Münster und New York: Waxmann, 71- 94.
Marx, Karl (1968 [1867]). Das Kapital. Band I. MEW, Bd. 23. Berlin: Dietz.
Nieswandt, Hans (2017): Concepts of Cologne. In: Perspectives on German Popular Music. Hg. von Michael Ahlers, Christoph, Jacke. London/ New York: Routledge, 225-230.
O.N. (2017). Vinylmap Cologne. Köln.
Poschardt, Ulf (1995). DJ-Culture. Diskjockeys und Pop-Kultur. Hamburg: Rogner und Bernhard.
Reynolds, Simon (2011). Retromania. Pop Culture´s Addiction to It´s Own Past. London: Faber and Faber.
Thornton, Sarah (1995). Club Cultures. Music, Media and Subcultural Capital. Cambridge: Blackwell.
Wagner, Karlheinz (2018). Vinyl-Platten-Boom. 16 Läden in Köln- Rückkehr der schönen schwarzen Scheiben. In: Kölner Stadt-Anzeiger, 06.07.2018, unter https://www.ksta.de/kultur/vinyl-platten-boom-16-laeden-in-koeln—rueckkehr-der-schoenen-schwarzen-scheiben—30915652, [Zugriff: 03.10.19].
Radio-Doku
Karnik Olaf, Zander Volker (2019). Vinyl und Wert. Die Ökonomien der Schallplatte. Unter: https://www.swr.de/swr2/doku-und-feature/Vinyl-und-Wert-Oekonomien-der-Schallplatte,broadcastcontrib-swr-14808.html, (Zugriff: 03.10.19).
Diskographie
Death In Vegas (2016). Transmission. Drone DRONE 007 LP.
Fah, Omni Causa (2017). Aux 447. Mindcolormusic AUX 447.
Guns N’Roses (1991). Use Your Illusion I . Geffen Records GEF 24415/ GEFD 24415.
Nirvana (1991). Nevermind. Geffen Records GED 24425/ DGCD 24425.
Sanders, Pharao (1969 [2015]. Karma. Impulse AS-9181
Vaz, Andy (2013). Bicycle Love. Yore Records Yore 006 LTD.
Timor Kaul arbeitet zur Zeit an seinem musikethnologischen Promotionsvorhaben „Lebenswelt House/Techno: DJs und ihre Musik“, das von Herrn Prof. Dr. Näumann am Institut für Europäische Musikethnologie an der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln betreut wird. Als freier Autor und Referent beschäftigt er sich mit Themen der elektronischen Populärmusik.