Bericht über eine Aktivität unserer dänischen PartnerInnen
Interview mit Lise Egholm, Leiterin von Rådmandsgades Skole in Nørrebro
In unserem Versuch den Integrationsstrategien in Dänemark auf die Spur zu kommen, haben wir unser Interesse besonders auf eine Grundschule – in Dänemark auch ‚Volksschule’ genannt – gerichtet.
Die Rådmandsgades Skole befindet sich in Nørrebro, das Viertel in Kopenhagen, das vor allem durch eine Vielheit von ethnischen Minderheiten geprägt ist (ungefähr 65% der Bevölkerung in Nørrebro haben eine andere ethnische Herkunft als dänisch). Nørrebro ist von lebendiger Multikultur, aber auch von zum Teil gewalttätigen Konflikten geprägt. Diese Bevölkerungszusammensetzung setzt sich auch in der Rådmandsgades Skole durch, deren Schüler zu 77% zweisprachig sind.
Die Herausforderung, alle diese Schüler, sowohl die dänischen sowie die anderen, durch den Unterricht zu sozialisieren und in die dänische Gesellschaft zu integrieren, ist für die Schulleiterin Lise Egholm eine Lebensaufgabe, für die sie sich sehr einsetzt. In ihrer Schule, die von der 0. bis zur 9. Klasse geht, gibt es 600 Schüler, deren Eltern aus 38 verschiedenen Staaten kommen, und sie sprechen 45 Sprachen. Die meisten haben arabische Hintergründe. Andere größere Gruppen sind Türken und Kurden, Pakistaner und Somalier.
Sie sieht ihre Schule gern in einer historischen Perspektive. Die Schule von 1889 stammt aus einer Zeit der Bevölkerungsexplosion und ist in dem Bewusstsein gegründet worden, dass Unterricht und Ausbildung auch für die unteren Schichten der dänischen Bevölkerung gebührenfrei sein sollte. Dieser Gleichheitsgedanke in der Volksschule ist für L. Egholm sehr wichtig, da er integrierend wirkt und die Kohärenz der Gesellschaft fördert. Sie ist daher den Privatschulen, egal ob sie ‚dänisch’ oder rein muslimisch sind, gegenüber negativ eingestellt.
Der Gleichheitsgedanke bedeutet für Egholm jedoch nicht, dass alle gleich behandelt werden sollten. Differenzierter Unterricht ist wichtig. Zweisprachige Schüler brauchen daher oft extra Unterricht und bekommen auch Unterricht in ihrer Muttersprache. Es ist dokumentiert worden, dass das auch den dänischen Sprachkenntnissen der Schüler hilft. Zweisprachige Schüler, die Sprachschwierigkeiten haben, dürfen in Ausnahmen auch nur eine weitere Fremdsprache (Englisch, Deutsch oder Französisch) erlernen.
Eine der Hauptanliegen Egholms ist die Kritik an der phlegmatischen Toleranz, die ihrer Meinung nach in der dänischen Gesellschaft sehr verbreitet ist. Die Dänen seien all zu oft zu passiv und zu entgegenkommend gegenüber den Einwanderern. Man muss ihr zufolge Stellung nehmen, Ansprüche stellen und Wünsche und Bedürfnisse deutlich aussprechen. Denn wenn man als Einwanderer nach Dänemark kommt, muss man die gesellschaftlichen Spielregeln und Verhaltensweisen erst einmal erlernen. Daher geht es Egholm darum, nicht nur die Kinder zu erziehen, die fast alle in Dänemark geboren sind, sondern auch die Eltern. Dafür investiert sie viel Zeit.
Viele der Familien, die einen anderen ethnischen Hintergrund haben, funktionieren ohne weiteres, aber andere Familien, wo die Eltern vom Land kommen, keine Ausbildung haben und u.a. Analphabeten sind, haben z.T. schwerwiegende soziale Probleme, welche die Integration in die Gesellschaft behindern und auch den Schulgang der Kinder erschweren. In einem Falle wurden in einer Klasse mit 24 Schülern 16 Kinder zu Hause geschlagen und erlebten Gewalt gegenüber der Mutter. Formell gesehen müsste die Schulleiterin diesen Fall bei den Behörden anzeigen, aber sie zog es vor, alle Eltern zu einem extraordinären Elternabend einzuberufen, wo zwei Lehrer der Schule sich als Kind und Erwachsener verkleidet hatten und zwei kleine Schauspielstücke aufführten. In dem ersten Stück geriet ‚der Vater’ außer sich als er hörte, dass sein ‚Sohn’ in der Schule von einem anderen Kind geschlagen wurde, und er regte sich ungeheuer auf. Im zweiten Stück sprach er, als sein ‚Sohn’ dieselbe Geschichte erzählte, ruhig und fragte nach den Gründen für die Schlägerei. Freundschaft sei besser als Zwietracht. Nach der Vorführung dieser beiden sehr pädagogisch inszenierten Schauspielstücke, ließ Egholm die Eltern in Gruppen in ihrer jeweils eigenen Sprache miteinander diskutieren, damit sie sich selber über Vorteile und Nachteile verschiedener Verhaltensweisen Gedanken machen konnten. Einerseits geht es Egholm also darum, ganz deutlich zu sagen, dass Gewalt nicht erlaubt ist, andererseits die Eltern zur Selbsteinsicht zu verhelfen.
In gleicher Weise müssen die Eltern akzeptieren, dass alle Kinder schwimmen lernen müssen, dass alle Kinder am Religionsunterricht (der Unterricht heißt in Dänemark missverständlicher Weise ‚Christentum’, darf aber nicht konfessionell sein) teilnehmen müssen und dass Mädchen auch neben Jungs sitzen können. Das durchzusetzen, ist ein alltäglicher Balanceakt zwischen Kompromissen und Standhaftigkeit. Egholm möchte auf keinen Fall orthodoxen Tendenzen nachgeben. Andererseits hilft ein Kompromiss manchmal den Bedenken der Eltern entgegenzuwirken. Die muslimischen Kinder dürfen daher im Bad nach dem Sportunterricht ihre Unterhosen anbehalten – aber Schwimmen und nachher ins Bad müssen sie.
Egholm führt sozusagen einen immerwährenden Dialog mit den Eltern. Es geht jedoch nicht darum, zusammen ganz neue Verhaltenskodexe zu erschaffen, sondern vor allem darum, dass die „dänischen“ Werte wie Verantwortung, Bedächtigkeit, Demokratie und Gleichberechtigung vermittelt und von den Eltern und Kindern adaptiert werden. Diese Erziehung ist jedoch nicht nur für eine dänische Gesellschaft gemeint, sondern soll als eine Erziehung zum Weltbürger verstanden werden, so dass man in einer dänischen Gesellschaft fungieren kann, aber im Prinzip auch in Shanghai.
Im Interview haben wir bei manchen Aspekten kritisch nachgefragt, und bei unserer Diskussion über Egholms Ansatz stand die Frage im Mittelpunkt, wie man in der schulischen Praxis Ethnozentrismus und Kulturrelativismus miteinander vermitteln kann oder sollte.
Emmy Nielsen
Veröffentlicht von Susanne Regener im Seminar Multikulti Stadt