12.03.2011

Genderrollen und Interkultur (von Annika-Katrin Keßler)

Spricht man von Geschlechterrollen, so handelt es sich um die vom Geschlecht unabhängigen unterschiedlichen Lebensstile, Verhaltensformen und Erwartungen, die einem Individuum eine Geschlechtsidentität zuordnen,  im Bezug auf eine bestimmte Kultur. Daher gestalten sich die Geschlechterrollen in jeder Kultur anders, weshalb es auch besonders in Deutschland lebenden Migranten und Migrantinnen schwer fällt, die heimische Kultur nicht außer Acht zu lassen, aber gleichzeitig sich in die deutsche Gesellschaft zu integrieren, was sich oft als sozialer Konflikt erweist, wenn sich die heimische Kultur signifikant von der Kultur unterscheidet, in der man lebt.

In diesem Artikel möchte ich dies, aus aktuellem Anlass der Integrationsdebatte, am Beispiel der muslimischen, hier der türkischen Kultur skizzieren, wobei ich insbesondere auf die Rolle der Frau im Islam und im Zuge der Geschlechtsidentität auf die Homosexualität Bezug nehmen werde.

Im Zusammenhang damit stellen sich verschiedene Fragen, mit denen ich mich näher beschäftigen möchte. Inwiefern erweist sich die unterdrückte türkische Frau als Klischee? Inwieweit wird die Erziehung türkischer Mädchen in Deutschland durch außerfamiliäre Faktoren beeinflusst? Was sagt der Koran über Homosexualität? Wie gestaltet sich das Leben als Homosexueller in einer muslimischen Gesellschaft oder als muslimischer Homosexueller in Deutschland? Inwieweit finden homosexuelle türkische Migranten und Migrantinnen Hilfe in Deutschland?

Inwiefern erweist sich die „unterdrückte türkische Frau“ als Klischee?

Schaut man sich einen Bericht im Fernsehen zum Thema Migration oder Integration an, so taucht immer wieder dasselbe Bild der türkischen Frau auf: Sie trägt ein Kopftuch. Dieses bedeutungsträchtige Kleidungsstück löst immer wieder Diskussionen  über die Integrations- und Modernisierungsfähigkeit junger türkischer Frauen aus. Dr. Yasemin Karakasoglu verweist im Bezug darauf in ihrem Aufsatz  „Geschlechtsidentitäten (gender) unter türkischen Migranten und Migrantinnen in der Bundesrepublik“[1] auf das „Traditionalismus-Modernismus-Paradigma“, in dem die Religiosität als Wert dargestellt wird, der traditionalistisch und demnach modernisierungsfeindlich ist. Jedoch ergeben neue Untersuchungen, dass Religiosität und Modernismus keine Gegensätze sein müssen. Es gibt durchaus Familien, die an ihrer Religion und an Traditionen festhalten und gleichzeitig ihr eigenes Modernisierungskonzept entwickeln, welches jedoch nicht immer auch aus deutscher Sicht als solches erkannt wird und in das typische Schema von Modernität nicht reinzupassen scheint. Laut der Shell-Jugendstudie 2000 wird die Religiosität als Wert von dem Großteil der jungen türkischen Frauen, die in Deutschland leben, als positiv beschrieben. Auch sie wollen diesen Wert an ihre Kinder weitergeben, wenn auch oft anders, als sie es in ihrer eigenen Erziehung erfahren haben. Die Erziehung der Mädchen und Jungen soll im Bezug auf die religiöse Vermittlung weniger hart und streng, sondern deutlich sanfter und demokratischer sein.  Muslimische Migranten und Migrantinnen in der zweiten Generation emanzipieren sich langsam und mit Vorsicht von der Elterngeneration. Durch das Übernehmen der Grundlagen der Religion geraten sie nicht zwangsläufig in einen Konflikt mit ihren Eltern, obwohl sie meist die Übernahme der Grundlagen in das Ausleben ihrer Religion nach eigenem Empfinden anpassen und eigene Lebensvorstellungen entwickeln. Unter den jungen türkischen Frauen gibt es daher auch natürlich einige, die sich ganz bewusst mit dem Tragen des Kopftuches zum Islam bekennen, was leider oft als Exklusion aus der Gesellschaft auf eigenen Wunsch wirkt. Jedoch wird das Tragen auch von einigen als Reaktion auf die Ausländerfeindlichkeit und die Ungleichheit in der deutschen Gesellschaft betrachtet. Auch im Bereich der Bildung wirken junge Türkinnen dem Bild des vom Islam als Patriarch unterdrückten Mädchens entgegen. Viele streben einen höheren Schulabschluss an und sind aufgrund der existierenden Klischees von den türkischen Frauen als ungebildete, nur dem Mann hörige Mädchen bemüht, eben diesen Vorurteilen entgegenzuwirken.  Sie stehen sogar im Bezug auf Bildung besser da als Jungen türkischer Herkunft.

Dr. Liselotte Abid lehrt Orientalistik an der Universität Wien und stellt in ihrem Aufsatz „Gender-Agenda und Werte-Debatte im Kontext des Islam“ dar, dass die zur Zeit stattfindende „Reislamisierung“, die verstärkte Rückbesinnung auf den Islam und die damit verbundenen Werte und Traditionen, nicht eine mangelnde Modernisierung der muslimischen Familien bedeuten muss. [2]

Dass jedoch viele junge Türkinnen nicht in der Lage sind, sich zu emanzipieren und ihr Leben autonom zu gestalten, werde ich im folgenden Abschnitt näher erläutern.

Inwieweit wird die Erziehung türkischer Mädchen in Deutschland durch außerfamiliäre Faktoren beeinflusst?

Egal in welcher Kultur, die Jugend stellt generell ein Konfliktfeld dar. Es ist die schwierige Phase, in der Kinder langsam über die Pubertät zu Erwachsenen heranreifen. So stellt die Jugend für junge türkische Mädchen besonderes Konfliktpotential dar, da sie unter Einflüssen der türkischen und der deutschen Kultur zugleich aufwachsen. Die Eltern richten meist die Erziehung nach den traditionellen Prinzipien aus, nach denen die Mädchen fast übergangslos von der Kindheit zum Erwachsensein geführt werden, ohne die Jugend als Lebensphase wirklich zu erleben. Deutsche Jugendliche haben hingegen die Möglichkeit, die Jugend als eigene Phase der Entwicklung zu erleben. Sie erproben neue Rollen, machen ihre ersten sexuellen Erfahrungen, bilden ihre eigene Persönlichkeit aus und lösen sich langsam von der Familie hin zu sogenannten „peer-groups“, welche den Jugendlichen bei der Entwicklung zur Selbstständigkeit helfen können.

Daher entwickeln auch türkische Mädchen, die in der deutschen Gesellschaft aufwachsen, jugendspezifische Bedürfnisse. Das Verhalten der deutschen Jugendlichen im sozialen Umfeld wird zum Orientierungsfaktor. Jedoch bergen diese Bedürfnisse für junge Türkinnen Konflikte innerhalb ihrer Familie, da ihre Erziehung teilweise ganz andere Werte anstrebt. Türkische Eltern reagieren auf die Entwicklung solcher Bedürfnisse oft mit Unverständnis und der Einschränkung des Handlungsspielraums der Mädchen, welches oft auch dahin führt, dass die Eltern den Mädchen sogar den Umgang mit gleichgeschlechtlichen Jugendlichen reduzieren, da sie Angst haben, dass die Mädchen heimlich den Kontakt zu deutschen Jugendlichen des anderen Geschlechtes knüpfen könnten und sogar sich auf eine Beziehung einlassen. Die Mädchen sind oft gezwungen den Spagat zwischen der langen Kindheit durch die enge Bindung zur Familie und der Heranführung an das Hausfrauen- und Mutterdasein zu schaffen, um schon früh eine Erwachsenenrolle zu übernehmen. Doch sie orientieren sich auf der anderen Seite an der deutschen Jugendsubkultur und entwickeln Bedürfnisse und Wünsche, die sie jedoch nicht ausleben können. Hartmut M. Griese bezeichnet dies in „Jugend(sub)kultur(en) und Gewalt“ als „Phänomen der widersprüchlichen Jugend“. Es besteht eine Diskrepanz zwischen eigenen Bedürfnissen und ihrer Befriedigung, denn die Gefahr, den emotionalen Rückhalt der Familie zu verlieren, ist ein ständiger Begleiter.

Dass dies nicht ohne Auswirkung auf die Persönlichkeitsentwicklung der jungen Mädchen bleibt, äußert sich darin, dass die Mädchen verunsichert sind, da sie keine Vorbilder haben, an denen sie sich orientieren können, denn weder das Elternhaus, noch die deutsche Jugendsubkultur können Identifikationsmöglichkeiten bieten. Die jungen Mädchen müssen ihre eigene Identität finden, die sich zwischen beiden Kulturen befindet, jedoch aber auch ihre eigenen Bedürfnisse nicht außer Acht lässt.

Wie gestaltet sich das Leben als Homosexueller in einer muslimischen Gesellschaft oder als muslimischer Homosexueller in Deutschland?

In seinem Aufsatz „TürkGay & Lesbian“ beschreibt Abdurrahman Mercan die Problematik, die sich einem jungen türkischen Mann stellt, der seine Homosexualität erkennt. Er skizziert dies am Beispiel von „Birol“. Birol lebt in einer patriarchalischen Familienstruktur, in der der Zusammenhalt und die Ehre der Familie im Vordergrund steht. Für die Entfaltung der eigenen, persönlichen Identität bleibt da wenig Spielraum. Nach vorherrschender Meinung verbietet der Koran die gleichgeschlechtliche Liebe und somit hat er von seiner Familie keine Unterstützung zu erwarten. Durch eine Beziehung zu einem homosexuellen Deutschen versucht er seine Identität zu stärken mit dem Gedanken, dass er ihn versteht. Doch dieser hat für Birols Situation kein Verständnis und wirft ihm vor, er übertreibe es und es sei schon nicht so schlimm, was Birol nur noch mehr verzweifeln lässt. Schließlich kann Birol seine Homosexualität nicht vor seinen Eltern verbergen und als sie es rausfinden, versuchen sie ihn „umzupolen“. Die sexuellen Eigenschaften ihres Sohnes sehen sie als schlecht an und denken, dass er sie mit festem Willen ablegen kann. Eine häufige „Lösung“ bei derartigen Problemen ist eine Heirat, um die homosexuellen Neigungen zu verstecken und zu unterbinden. Doch Birol entscheidet sich dagegen und erfährt die Konsequenzen seiner Entscheidung. Da er vorher im Geschäft seines Vaters gearbeitet hat, bekommt er nun keine finanzielle Unterstützung mehr. Weil er den Strapazen nicht mehr standhalten kann und mit den Kräften am Ende ist, übergießt er sich mit Benzin und bittet seinen Großvater, ihn anzuzünden, was er auch tut. Birol steht in Flammen, kann jedoch gerettet werden, da deutsche Nachbarn die Polizei rufen.

Diese Geschichte ist leider durchaus typisch für die Reaktion einer türkischen Familie auf die Homosexualität eines Mitgliedes. Ich habe selbst einen Bekannten, der seiner Familie seine homosexuelle Identität verschweigen muss, aus Angst vor der Exklusion.

Einerseits ist es die Unkenntnis über das Thema, andererseits das vermeintliche totale Verbot im Koran, was die meisten traditionellen Türken davon abhält, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Auch die Angst, selbst eine homosexuelle Neigung zu verspüren, verstärkt die Ablehnung.

Was sagt der Koran über Homosexualität?

Andreas Ismail Mohr versucht diese Frage in seinem Artikel „Wie steht der Koran zur Homosexualität?“ zu beantworten, wobei er jedoch auf einige Probleme bei der Interpretation stößt. Als Ausgangstext verwendet er die „Lot-Geschichte[3], in der Lot verurteilt wird, sich in seiner „Sinneslust“ mit anderen Männern abgegeben zu haben, statt mit Frauen. Die traditionellen Koranleser legen dies als Sex mit Männern aus, jedoch erweist sich dies bei der genaueren Auseinandersetzung mit dem Urtext als zu vorschnell und äußerst problematisch.

Der Koran selbst spricht nicht explizit über Sex, daher auch nicht über Homosexualität, denn der Begriff „Homosexualität“ entstand als solches erst im 19. Jahrhundert. Daher findet man im Korantext, welcher auf Arabisch geschrieben ist, kein Wort, das man mit „Homosexualität“ übersetzen kann. Der Terminus „Sex“ wird nur angedeutet, Mohr führt hier eine arabische Redewendung als Beispiel auf: „zu jemandem im Gelüst kommen“[4], welche jedoch nicht zwangsläufig eine sexuelle Bedeutung haben muss und auch in den meisten Stellen im Koran keine derartige Bedeutung hat. Weiterhin wird dies nur als Warnung an das Volk geschrieben, jedoch nicht als Tatsache, dass Lot dieser Sünde angeblich verfiel.

Aufgrund dieser Tatsachen ist es nach Mohr nicht möglich, Homosexualität als Sünde zu verdammen. Weiter weist er darauf hin, dass auch die Begriffe „Islam“ und „Muslim“ nicht einfach nur Eigennamen sind, sondern auch „Hingabe; ins Heil eintreten“ bedeuten. Demnach sieht er sich selbst als jemand, der sich dem Willen Gottes hingibt und sich selbst so annimmt, wie Gott ihn schuf: als schwulen Mann.

Inwieweit finden homosexuelle türkische Migranten und Migrantinnen Hilfe in Deutschland?

Verallgemeinernd lässt sich laut Abdurrahman Mercan sagen, dass die meisten türkischen Migranten/ -innen in Deutschland mit ihrer eigenen Identität als Homosexuelle nicht klar kommen, da sie sie in den meisten Fällen nicht ausleben können und sich nicht frei entfalten können.

Aus diesem Grund wurden mehrere Selbsthilfegruppen und Vereine gegründet, die jungen Türken/ -innen ein soziales Umfeld bieten sollen, in dem sie lernen, ihre persönliche Identität frei auszuleben, emotionale Unterstützung zu erfahren und ein neues Leben zu beginnen.

In verschiedenen Gruppen und Organisationen haben Schwule und Lesben die Möglichkeit, sich zu vernetzen, gemeinsam Veranstaltungen zu organisieren mit der „Hilfe zur Selbsthilfe“, um die eigene Identität zu stärken.

Eine dieser Gruppen ist die „TürkGays&Lesbian“ im LSVD, dem Lesben- und Schwulenverband Deutschland. Mit Kampagnen wie „Liebe verdient Respekt“ wird Aufklärungsarbeit betrieben und Betroffene werden aktiv unterstützt. In Verbindung damit bietet das Projekt „MILES“ eine interkulturelle Beratung für Schwule und Lesben mit Migrationshintergrund, sowie für deren Angehörigen.

Die einzige unabhängige Selbst-Organisation türkischer Lesben und Schwulen außerhalb der Türkei ist der „GLADT“, welche auch Beratungen und ein soziales Netz für homosexuelle Türken anbietet.

Resümee:

Abschließend kann man nicht generell von der allgemeinen Geschlechterrollenverteilung in Deutschland bei türkischen Migranten/ -innen sprechen, da ein Wandel von Generation zu Generation zu vermerken ist. Jedoch kann man sagen, dass ein Großteil der türkischen Familien noch stark von der patriarchalischen Struktur, wie sie im klassischen Islam Tradition ist, geprägt sind. Es gibt zwar immer mehr Familien, die ihre Erziehung der deutschen Gesellschaft anpassen, jedoch ist der Spagat der Jugendlichen zwischen Familie und ihrem sozialen Umfeld in Deutschland immens und schwer zu realisieren. Die Entwicklung der Geschlechterrollen befindet sich also in einem Wandel, auch wenn dieser in manchen Familien langsamer erfolgt als in anderen.

Zum Thema Homosexualität zeigt sich, dass die Aufklärungsarbeit durch die verschiedenen Organisationen unbedingt notwendig ist und auch noch erweitert und vertieft werden muss. Die Homophobie, die in islamischen Ländern und auch in Deutschland unter den     Migranten/ – innen vorherrscht, muss unbedingt durch Information und Aufklärung „bekämpft“ werden, damit homosexuelle Jungendliche ihre persönliche Identität frei entfalten können, ohne Angst vor familiären Konsequenzen zu haben.

Besonders interessant wird die Entwicklung der erörterten Themenbereiche in den nächsten Jahrzehnten sein, da, wie schon erwähnt, die Geschlechterrollen einem Wandel unterliegen und man verfolgen muss, wie sie sich innerhalb der nächsten und übernächsten Generation der türkischen Migranten/ -innen in Deutschland (weiter-)entwickeln, zumal die Medien immer mehr darüber berichten werden.

Quellen:

Hans G. Ziebertz (2010): Gender in Islam und Christentum: Theoretische und empirische Studie. Münster. LIT-Verlag.

Argumente zum deutsch-Türkischen Dialog (2003): Geschlecht und Recht. Hamburg. Körber-Stiftung.

Silke Lorch-Göllner (1989): Lebensbedingungen und Entwicklungsmöglichkeiten junger türkischer Frauen in einem ländlich strukturierten Gebiet der Bundesrepublik Deutschland. Frankfurt am Main. Peter Lang Verlag.

LSVD Berlin-Brandenburg e.V. (Hg.) (2004): Muslime unter dem Regenbogen: Homosexualität, Migration und Islam. Berlin. Querverlag GmbH.

Silke Riesner (1995): Junge türkische Frauen der zweiten Generation in der Bundesrepublik Deutschland. Frankfurt. Verlag für Interkulturelle Kommunikation.

http://www.gladt.de/ vom 23.12.2010

http://www.berlin.lsvd.de/ vom 02.01.2011


[1] Argumente zum Deutsch-Türkischen Dialog: Geschlecht und Recht.

 

[2] Hans G. Ziebertz: Gender in Islam und Christentum – eine theoretische und empirische Studie

[3] Koran: 7:80-84

[4] Mohr: „Wie steht der Koran zur Homosexualität?“in: Muslime unter dem Regenbogen, S. 14

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