Projektleiter:
Prof. Dr. Jörg Döring (Siegen)
Wissenschaftliche Mitarbeiterin:
Nora Manz, M.A. (Siegen)
Als performativer Epitext sollen hier alle Formen spontan-mündlicher Selbstmitteilung von Autor*innen im Rahmen öffentlicher Lesungen verstanden werden: d.s. auktoriale Sprechakte vor, während und nach der Werklesung, z. B. auch solche im Rahmen eines Publikums- oder Moderatorengesprächs als fester Lesungsbestandteil, d.h. mit ausdrücklichem Bezug zu dem Teil der Autor*innenschaftsperformanz, der aus der Lesung des eigenen Werkes besteht.
Das Arbeitspakt geht von der Annahme aus, dass der erstaunliche Resonanzerfolg, der dem Veranstaltungstyp der Dichterlesung im literarischen Leben der Gegenwart beschieden ist, nicht zuletzt auf diesen spezifischen Aufführungsverbund aus Werkvortrag mit performativem Epitext zurückzuführen ist. Der empirisch bezeugte Umstand, dass es derzeit so gut wie überhaupt keine Dichterlesungsformate gibt, die gänzlich ohne performativen Epitext auskommen, hat unsere arbeitsleitende Hypothese zur Folge, dass die Autor*innenlesung als integrale Praxisform überhaupt nur verständlich wird, wenn man sie als unauflösliches Ineinander von Werkvortrag und performativen Epitext untersucht. Dazu gibt es außer zwei Pilotstudien des Siegener Antragstellers¹ nahezu keine Forschung für den deutschsprachigen Literaturraum.²
Das Arbeitspaket will diese Praxisform vor allem am Beispiel der Lyriklesung untersuchen, weil dabei der Anteil des performativen Epitextes ersichtlich ganz besonders groß ist. Nicht selten übersteigt er umfänglich die Dauer des Werkvortrags. Die Lyriklesung erscheint auch deshalb ein besonders glücklicher Fall für die Analyse der praxiskonstitutiven Anteile performativer Epitexte, weil Lyrik unter allen Literaturgattungen aufgrund ihrer sprachlichen Prägnanz und Inkommensurabilität die größte ‚Zumutung‘ für die ihr Zuhörenden darstellt. Wie ist es zu erklären, dass eine steigende Anzahl von Besucher*innen etwas so Unwahrscheinliches tut, nämlich dafür Geld auszugeben, sich ein ihnen zuvor unbekanntes Gedicht vom Autor oder der Autorin exakt einmal vorlesen zu lassen (und das sie dann auch nicht zwingend zuhause nachlesen)?
Das Arbeitspaket geht von der Hypothese aus, dass erst der performative Epitext aus dem Munde des Autors bzw. der Autorin, gleichsam als Antidot, die Zumutung eines Werkvortrags von Gedichten kommensurabel macht. Das impliziert ein stark gewandeltes Anforderungsprofil für Lyrikschaffende, da die Praxisform der Lesung für die gegenwärtigen Lyriker*innen ökonomisch erwiesenermaßen mittlerweile weit wichtiger als der Verkauf von Büchern ist.
Die Hypothese, die sich aus den Pilotstudien und der Anforschungsphase ergeben hat und die das Arbeitspaket zu überprüfen sich vornimmt, lautet: Der performative Epitext im Rahmen von Lyriklesungen hat Instruktionscharakter und formuliert eine Hör-Vorschrift, -Hinsicht oder Stimulans, die den Besucher*innen der Gedichtlesung ein auktorial verbürgtes Interpretament zum Verständnis des Werks offeriert oder die Hörenden in Auslegungsspannung versetzt. Der ungerahmte Werkvortrag allein scheint derzeit kein Garant mehr, die Zuhörenden in solche Auslegungsspannung zu versetzen.
Fußnoten:
1. Döring, Jörg/Paßmann, Johannes: „Lyrik auf YouTube. Clemens J. Setz liest ‚Die Nordsee‘ (2014)“, in: Zeitschrift für Germanistik, N.F. XXVII (2017), H. 2, S. 329–347 sowie Döring, Jörg: „Marcel Beyer liest. Gedicht und performativer Epitext“, in: Christian Klein (Hg.): Marcel Beyer. Stuttgart 2018, S. 73–93.
2. Deutlich andere Akzente setzen: Benthien, Claudia: „‚Performed Poetry‘. Situationale Rahmungen und mediale „Über-Setzungen“ zeitgenössischer Lyrik“, in: Uwe Wirth (Hg): Rahmenbrüche – Rahmenwechsel. Berlin 2013 (= Wege der Kulturforschung 4), S. 287–309, Utler, Anja: „manchmal sehr mitreißend“. Über die poetische Erfahrung gesprochener Gedichte. Bielefeld 2016 und Bers, Anna/Trilcke, Peer (Hgg.): Phänomene des Performativen in der Lyrik. Systematische Entwürfe und historische Fallbeispiele. Göttingen 2017. Für den internationalen Zusammenhang einschlägig ist Novak, Julia: Live Poetry. An Integrated Approach to Poetry in Performance. Amsterdam/New York 2011 (= Internationale Forschungen zur Allgemeinen und vergleichenden Literaturwissenschaft 153).