03.12. – Silke Ballath: Künstlerisch-edukative Projekte als Zwischenraum für Aushandlungen und Interaktionen

Tischgesellschaft von Katharina Stahlhoven, Silke Ballath & den Akteur*innen der Ruth-Coen-Schule, Foto Peter Wehkamp, 2018
Urbane Botanik von 7 Schulen für die Grüne Tafel, Foto Victoria Tomaschenko 

Im Rahmen künstlerisch-edukativer Projekte treten mindestens zwei Positionen miteinander in Beziehung. Wann verwischen dabei die Grenzen zwischen den Körpern? Und wie geraten (ihre) Standpunkte in Bewegung? Entlang einiger Praxisbeispiele aus dem Programm Kulturagenten für kreative Schulen wird diesen Fragen nachgegangen.

Silke Ballath ist Kulturwissenschaftlerin, Kulturagentin und Kunstvermittlerin sowie Projektleitung des Künstler*innenkollektivs sideviews und schreibt seit 2014 ihre Dissertation bei Prof. Dr. Christine Heil und bei Prof. Dr. Nora Sternfeld. In der Promotion liegt ihr Fokus auf der Zusammenarbeit von Lehrer*innen und Künstler*innen im Kontext Schule.

Exzerpt:

Im Rahmen künstlerisch-edukativer Projekte treten mindestens zwei Positionen miteinander in Beziehung. Wann verwischen dabei die Grenzen zwischen den Körpern? Und wie geraten (ihre) Standpunkte in Bewegung?

Ich verstehe künstlerisch-edukative Projekte als Praxis, die eine selbstreflexive, konfliktuelle und situierte Haltung in den Fokus stellen, um Machtverhältnisse zu erkennen, zu benennen und gegebenenfalls. zu verändern. Bezugnehmend auf eine engaged pedagogy der amerikanischen Autorin, Professorin, Feministin und Aktivistin feministischer und antirassistischer Ansätze bell hooks, die jeden Klassenraum unterschiedlich wahrnimmt, Strategien ständig wechselt, neu erfindet und re-konzeptualisiert. Um jeder Situation neu begegnen zu können, wird die Arbeit in künstlerisch-edukativen Projekten von mir als Zwischenraum für Aushandlungen und Interaktionen beschrieben. Mit hooks ist Lehren ein performativer Akt: Eine Möglichkeit für Veränderung, Erfindungen und spontane Shifts, die das Besondere in jedem Klassenraum ermöglichen. Es geht ihr darum, dass jede*r aktiver Teil eines Lernprozesses werden kann, ausgehend von ihren und seinen Geschichten und Erfahrungen. Daran anschließen möchte ich mit Donna Haraway, die von Standpunkten in Bewegung spricht und damit das Verwischen von Grenzen und der Lust am Spiel mit Veränderbarkeit als Resultat und Voraussetzung allen Erkennens meint. Körper (Menschen und Dinge) spielen in ihren Überlegungen eine wesentliche Rolle. Sie versteht sie als Ablagerungsorte von Interaktionen und Beziehungen. Einerseits bedeutet dies, dass Körper miteinander verbunden sind und kollektiv produziert und konstruiert werden. Andererseits geht daraus auch hervor, dass sie veränderbare und hybride Konstrukte sind. Jede Position beschreibt einen Standpunkt, eine bestimmte Sichtweise und eine Perspektive. Jede Interaktion kann eine Bewegung verursachen. Mich interessieren an künstlerisch-edukativen Projektpraxen die Bedingungen und die Möglichkeiten miteinander in Beziehung zu treten. Und daran anschließend: wann geraten die Standpunkte in Bewegung?

Haraway spricht von einer „Verknüpfung partialer Sichtweisen“, die sich in ihrem Konzept des „situierten Wissens“ als „kollektive Subjektposition“ verbinden. Sie geht explizit von einer inneren Differenz aus und das heißt, Standpunkte sollen in Bewegung versetzt werden. Das Verbinden verschiedener Standpunkte betrachtet sie als Möglichkeit, „ein Netz zu weben, das die machtförmig organisierten Positionierungen zu transformieren vermag, ohne gleichzeitig alle Differenzen in einem zentralen Standpunkt oder in einer Zentralperspektive aufzulösen.“ In diesem Sinne übersetze ich das Zwischen (den Bindestrich zwischen künstlerisch und edukativ, die Zusammenarbeit zwischen Künstler*innen und Lehrpersonen oder zwischen Kulturinstitution und Schule) mit Beziehung. Beziehungen verstanden als bewegliche Linien und Überschneidungen von Bedeutungen, Körpern und Positionen. Die Beziehungen sind das Netz und die Linien, die die Standpunkte miteinander verbinden. Die Interaktionen produzieren diese Beziehungen zwischen Menschen und Dingen sowie zwischen Menschen untereinander. In den Interaktionen entstehen Resonanzen, die Haraway als Knotenpunkte in Feldern und Wendepunkten beschreibt. Ihr geht es darum, Verantwortung zu übernehmen: für Differenzen, für Praktiken, für Positionen und für die Überlappungen oder Schichtungen, die aus den Interaktionen heraus entstehen. Denn jeder Körper ist Träger*in von Wissen und produziert Bedeutungen, die uns Macht verleihen. Die Verknüpfung partialer Sichtweisen verbindet die Standpunkte und Körper in kollektiven Subjektpositionen. Die Standpunkte geraten dadurch in Bewegung. Standpunkte in Bewegung werden im Konzept des situierten Wissens als Verantwortungsübernahme beschreibbar, für bewegliche durchlässige, unabgeschlossene und unvollständige Verortungen und Konstruktionen.

Ein Merkmal für eine künstlerisch-edukative Projektpraxis ist daher, die Anerkennung von Differenz. Dieses Merkmal sollte meines Erachtens schon in der Projektplanung ernst genommen werden. Es ist ausschlaggebend dafür, wie ein Prozess verläuft. Selbst wenn, während des Prozesses Unstimmigkeiten und Unwegsamkeiten auftreten oder Differenzen verhandelt werden müssen, ist es wichtig sie anzuerkennen, denn es bedeutet, dass Standpunkte beginnen sich zu bewegen und nicht statisch bleiben.

Haraway spricht von dem Verwischen von Grenzen und der Lust am Spiel mit Veränderbarkeit als Resultat und Voraussetzung allen Erkennens. Sie entwickelte in den 80er Jahren die Figur des Cyborgs als Wesen der Science-Fiction mit Bezug zur gesellschaftlichen Wirklichkeit. Cyborgs sind hybride Figuren, die sie entwarf, um sichtbar zu machen, dass Grenzen und das Abstecken von Rollenverhältnissen nicht „einfach“ verändert werden. Mit der Figur des Cyborgs suchte sie nach neuen Formen und Figuren, um Verständnisse, Verhältnisse und Grenzziehungen sichtbar und dekonstruierbar zu machen. Vor allem aber wollte sie eine Metapher aufmachen, um die Grenzlinien des Alltags neu zu ziehen. Das heißt, es geht ihr darum temporäre Netzwerke zu eröffnen, um bestehende Identitäten, Beziehungen, Räume und Geschichten zu bewegen. Gerade in der schulischen Praxis existieren Konstruktionen, Positionen und Kontexte, die mittels künstlerisch-edukativer Praxen verschieb-, befrag- und erlebbar werden können.

hooks Konzept der engaged pedagogy greift diesen Gedanken ebenfalls auf. Sie schlägt vor, Strategien aus dem Prozess heraus zu modifizieren und weiterzuentwickeln, um jeder Situation neu zu begegnen. Der performative Akt stellt einen Zwischenraum her, wenn alle Beteiligten Vertrauen in den Prozess entwickeln, so dass Erwartungen und Widersprüche gleichermaßen ernst genommen werden können. Im Spiel mit künstlerisch-edukativen Praxen können beispielsweise Grenzen und Themen angesprochen und ausgehandelt werden, die möglicherweise in einem regulären Setting anders aufgefasst oder angenommen werden würden. Es geht darum, voneinander zu lernen. Und miteinander zu lernen. Damit Standpunkte, Grenzziehungen und bestehende Verhältnisse zur Disposition gestellt werden können, müssen Widersprüche und Irritationen Teil der Zusammenarbeit werden. Eine Veränderung bestehender Zugehörigkeitskontexte und Positionen beinhaltet daher für alle Beteiligten, erlernte Praktiken und handlungsrelevante Verständnisse eines Regelkorpus im Sinne Gayatri C. Spivaks zu verlernen.

Spivak macht mit dem Konzept des Verlernens von Privilegien darauf aufmerksam, dass bestehenden Konzepten, Begriffen, Praxen u.a. hegemoniale Strukturen eingeschrieben sind. Sie zeigt auf, dass Privilegien mit jeder Interaktion zwischen Körpern, Räumen, Dingen und Sprache verbunden sind. Ihre Konzept-Metapher des Hineinwebens hebt hervor, dass die gewobene Text-ilie als ein zerrissenes kulturelles Gewebe betrachtet werden muss, das aus dem dominanten Webstuhl entfernt wurde. Daraus resultiert, dass bestehende, hegemoniale Diskurse gewebt worden sind, ohne das „zerrissene kulturelle Gewebe“ einzubinden oder die Textur zu erneuern. Die Umkehrung macht deutlich, dass der hegemoniale Diskurs zwangsläufig nur das reproduziert, was in ihn eingewebt worden ist. Das Verlernen von Privilegien könnte mit der Implikation des Hinzufügens als Prozess verstanden werden, Kultur und in diesem Fall künstlerisch-edukative Projekte als konflikthafte Praxis anzuerkennen, um Raum für die Artikulation verschiedener Perspektiven und Marginalisierungen, jenseits hegemonialer Selbstverständnisse zu schaffen. Ein Instrument, das die Lust am Verschieben, Irritieren und sich Widersprechen fördert und darüber eine Möglichkeit eröffnet, verschiedene Positionen und Standpunkte in die vorhandene Textur einzuweben.

Silke Ballath, Kulturwissenschaftlerin und Kunstvermittlerin

CV

Silke Ballath ist Kulturwissenschaftlerin, Kulturagentin und Kunstvermittlerin sowie Projektleitung des Künstler*innenkollektivs sideviews. Sie ist seit 2007 im Feld der kritischen Kunstvermittlung tätig. Im Kontext institutioneller Settings wie z.B. documenta 12, Kunstverein Wolfsburg, Kulturagenten für kreative Schulen, kontextschule u.a. interessiert sie der Aufbau einer künstlerisch-edukativen Praxis. Sie beschäftigt der wissenschaftliche Diskurs sowie das Praxisfeld um/mit einer kritischen Kunstvermittlung und das Verhältnis zwischen theoretischen-praktischen Wissensformen. Seit 2011 arbeitet sie als Kulturagentin für kreative Schulen in Berlin, war von 2014-16 Co-Moderatorin der KontextSchule und hat verschiedene Lehraufträge gegeben (Uni Hildesheim/ Duisburg-Essen/ Freiburg/ zu Köln , Kunsthochschule Weißensee Berlin). Darüber hinaus berät sie Schulen in Bezug auf eine kulturelle Profilierung und schreibt seit 2014 ihre Dissertation bei Prof. Dr. Christine Heil und bei Prof. Dr. Nora Sternfeld. In der Promotion liegt ihr Fokus auf der Zusammenarbeit von Lehrer*innen und Künstler*innen im Kontext Schule.

Literatur

Ballath, Silke (2020): Hey Siri! Was ist ein Kurator? – Eine Museumsforschung ohne Museum. In: Kulturelle Bildung Online. Link: https://www.kubi-online.de/artikel/hey-siri-was-kurator-museumsforschung-ohne-museum

Ballath, Silke (2016): Ein (Zwischen)Raum für die Möglichkeit des Unmöglichen. Die Erforschung des Modells eines Transformationsraums. Kubi-Online. Link: https://www.kubi-online.de/artikel/zwischenraum-moeglichkeit-des-unmoeglichen-erforschung-des-modells-eines

Haraway, Donna (1995): Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen. Frankfurt a. M. und New York: Campus.

hooks, bell (1994): Teaching to Transgress. Education as a Practice of Freedom. New York: Routledge.

Spivak, Gayatri Chakravorty (1990): Criticism, Feminism, and The Institution. In: The Post-Colonial Critic. Interviews, Strategies, Dialogues. New York: Routledge.

Spivak, Gayatri Chakravorty (2008): Ein Gespräch über Subalternität. In: Spivak, Gayatri Chakravorti (2008): Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation. Wien: Turia + Kant.