Selektionsmechanismen

Die Selektionsmechanismen der massenmedialen Öffentlichkeit haben im Internet keine Geltung mehr. Die Monopolstellung des professionellen Journalismus in der Auswahl und Aufbereitung von Nachrichten (Gatekeeping) geht so verloren. Entscheidend ist, dass die gesetzten Themen von Usern im Internet ebenfalls Auswirkungen auf die massenmediale Öffentlichkeit haben können.

Dies lässt sich beispielsweise anhand der Internetplattform Wikileaks verdeutlichen. Durch die Veröffentlichung von vertraulichen Dokumenten der US-Regierung wurden die Wikileaks-Betreiber von Konsumenten zu Themenstellern. Das von ihnen generierte Thema zog schnell die Aufmerksamkeit der Internet-Nutzer auf sich, wurde schließlich von Online-Medien und den Massenmedien der Medienöffentlichkeit aufgenommen und erreichte so ein großes Publikum. Es durchlief also beginnend von oben nach unten alle Ebenen der Pyramide und verdeutlicht die Verbindung der massenmedialen Öffentlichkeit mit der Internet-Öffentlichkeit.
Wenn Gerhard Schulze (2011) oder Christoph Neuberger und Manuel Wendelin (2012) von einem zweiten Strukturwandel der Öffentlichkeit im Bezug auf das Web 2.0 sprechen, verweisen sie unmissverständlich auf Habermas’ Habilitationsschrift. Tatsächlich bietet das Web 2.0 eine reale Chance, das deliberative Öffentlichkeitsmodell Habermas’ mit neuem Leben zu füllen. Dieses Potential für die Gesellschaft, hinsichtlich einer freien und kritischen Meinungsäußerung, erkannte auch Habermas.

Das World Wide Web scheint freilich mit der Internetkommunikation die Schwächen des anonymen und asymmetrischen Charakters der Massenkommunikation auszugleichen, indem es den Wiedereinzug interaktiver und deliberativer Elemente in einem unregulierten Austausch zwischen Partnern zulässt, die virtuell, aber auf gleicher Augenhöhe miteinander kommunizieren (Habermas 2012: 161).

Trotz des großen Potentials des Web 2.0 fehlen laut Habermas aber Ordnungsstrukturen, „die die dezentralisierten Botschaften wieder auffangen, selegieren und in redigierter Form synthetisieren“ (Habermas 2012: 162). Dieser Einschätzung widersprechen Christoph Neuberger und Manuel Wendelin. Die Bürger seien durch das Internet eher in der Lage, durch öffentliche Kritik eine Gegenmacht zu entwickeln (vgl. Neuberger/Wendelin 2012).

Auf der Ebene des Internets können z.B. Online-Plattformen, wie abgeordnetenwatch.de zur Überwachung der Politik und somit zur Legitimation von Herrschaft dienen. Der Bürger kann hier die Rolle eines Watchdogs1 einnehmen, indem er die Handlungen von Bundestagsabgeordneten überwacht und fernab von massenmedialer Themenselektion kritisch auf Missstände aufmerksam macht. Dies verdeutlicht, dass die Kommunikation im Internet auch bottom-to-top verlaufen kann. Durch Kommentarfunktionen und soziale Medien wie Facebook und Twitter werden den Internet-Nutzern neue Möglichkeiten gegeben, um mit den Erstellern von Meldungen in Kontakt zu treten. So wird das Abgeben von Feedback oder das Führen von Anschlusskommunikation maßgeblich vereinfacht.

Außerdem lässt sich anhand des Sanduhrmodells überprüfen, inwiefern die normativen Funktionen von Öffentlichkeit in Zeiten des Web 2.0 erfüllt werden können.


1Im engen Sinne ist Watchdog die englische Bezeichnung für einen Wachhund. Außerdem wird es verwendet, um eine Person oder Gruppe zu bezeichnen, die unethische oder illegale Aktivitäten in einem bestimmten Bereich der Wirtschaft oder der Gesellschaft aufdeckt (vgl. macmillandictionary.com 2016). Im oben genannten Fall bezieht sich der Begriff auf die Überwachung von politischen Akteuren und Prozessen durch bestimmte Bürger.